Genre und Gemeinsinn

Jeder Film denkt sich seinen Zuschauer – und zwar nicht nur als jemanden, der einer Medientechnik ausgesetzt wird, sondern auch als gesellschaftliches Individuum. Die ästhetischen Konzepte von Filmen unterscheiden sich – zumindest auf den ersten Blick – deutlich darin, wie sie dieses gesellschaftliche Individuum ansprechen. Die allermeisten Filmkonsumenten treffen diese Unterscheidung ganz intuitiv. Die Begriffe, die sie dabei gebrauchen, sind die des Autorenfilms und der Filmkunst auf der einen Seite, des Genrekinos und der Unterhaltungskultur auf der anderen Seite.

Auch wenn sich mit diesen Begriffen nicht selten ein Urteil über die „Qualität“ der Filme verbindet, unterscheidet der Zuschauer damit zunächst und vor allem die Art und Weise, wie ihm der Film begegnet.

Da sind auf der einen Seite solche Filmpoetiken, die darauf zielen, die gesellschaftlichen Bedingungen der Wahrnehmung erfahrbar zu machen. Sie benutzen das kinematografische Bild, um diese Bedingungen, die in der Alltagswahrnehmung ausgeblendet sind, hervortreten zu lassen. Es handelt sich – ganz allgemein – um Poetiken, die versuchen, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Umstände zu lenken, denen er als gesellschaftliches Individuum ausgesetzt ist.

Auf der anderen Seite stehen Filmpoetiken, die darauf zielen, Emotionalität erfahrbar zu machen. Es handelt sich um Affektpoetiken, die den Zuschauer als ein Individuum ansprechen, das in seinen Gefühlen am gemeinschaftlichen Leben teilnimmt. Hier liegt das besondere Interesse unseres Forschungsschwerpunkts. Wir bezeichnen die emotionale Teilhabe am gemeinschaftlichen Leben heuristisch als „Gemeinschaftsgefühl“.

Uns interessiert zunächst, wie die unterschiedlichen Affektpoetiken, die mit dem Genrekino in Verbindung gebracht werden, dieses Gemeinschaftsgefühl ganz konkret bearbeiten.

Gibt es hier genrespezifische Unterschiede?

Bilden die Genres untereinander möglicherweise so etwas wie ein affektpoetisches System?

Um dies zu klären, analysieren wir auf Grundlage des eMAEX-Verfahrens im Detail die emotionalisierende Wirkung der Bilder verschiedener Genrefilme. Neben dieser Analyse verfolgen wir auch eine theoretische Fragestellung:

Wenn das Genrekino den Zuschauer als ein Individuum anspricht, das in seinen Gefühlen am gemeinschaftlichen Leben teilnimmt, lässt es sich dann mit anderen kulturellen Praktiken vergleichen, die auf die emotionale Einbindung der Individuen in die Gemeinschaft zielen?

Wie verhält sich das Genrekino beispielsweise zu Ritualen des öffentlichen Gedenkens?

Schließlich nehmen wir im Forschungsschwerpunkt „Genrekino und Gemeinschaftsgefühl“ auch eine historische Perspektive ein. Was den europäischen Kontext angeht, ist hier das Verhältnis von Genre- und Autorenkino, von Unterhaltungskultur und Filmkunst von entscheidender Bedeutung.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verbindet sich in der Idee des Autorenkinos die Erfahrung der gesellschaftlichen Desintegration mit der Erwartung an das Kino, zur Begründung einer neuen politischen Kultur beizutragen. Wie verhält sich das seit den 50er Jahren in Westeuropa entstehende Genrekino zu dieser Erwartung? Und welche Rolle spielt dabei das Vorbild des Hollywood-Genrekinos, auf das nicht nur das westeuropäische Unterhaltungskino bezogen ist, sondern eben auch die Filmpoetiken der „Neuen Realismen“ und der „Neuen Wellen“?

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