4 Nicht von dieser Welt... das Sein der Figuren
"Sag das nicht. Sonst beginne ich zu weinen, und ein Phantasma weint nicht." Das sind die letzten Sätze in Almodóvars letztem Film VOLVER. Carmen Maura spricht sie, um noch einmal die Tochter Raimunda am Reden zu hindern. Die Tochter, die endlich alles aussprechen will – ihren Schmerz, ihre Verletzung, die Schuld der Eltern.
Auf den ersten Blick scheint damit die poetische Logik des Melodramas bündig beschrieben; ein Schmerz, der nicht zur Sprache kommt und stattdessen immer neue Ausdrucksformen zeugt: einen traurigen Gesang, ein weinendes Gesicht, eine Farbkomposition, ein Gedicht, einen Tanz. Wir finden bei Almodóvar jede dieser Manifestationen sentimentaler Empfindsamkeit, und doch folgen seine Filme nicht der Logik des Melodramas.
Von seinen frühsten bis zu seinen jüngsten Filmen ist eine perspektivische Konstruiertheit zu beobachten, in der die Psychologie melodramatischer Figurenentwürfe radikal veräußerlicht wird. An die Stelle der einen subjektiven Binnenperspektive des empfindsamen Ich ist ein sich unendlich spiegelnder Relativismus je vereinzelter Blicke auf dieses Ich getreten. Die Figuren dieser Filme gewinnen ihre affektive Dimension nicht aus einem psychologischen Illusionismus, sondern aus der Transparenz ihrer inszenatorischen Konstruktion. Ihnen kommt eine gänzlich artifizielle Seinsweise zu, die dem Zuschauer als relationales Verweissystem stets gegenwärtig ist.
Ein berühmtes Foto Almodóvars kann dieses poetische Prinzip illustrieren: Man sieht den Regisseur vor einem Schachbrett, die Spielfiguren tragen die Gesichter und Kostüme der Figuren seiner Filme. Allerdings sollte man die Selbststilisierung des Regisseurs nicht vorschnell als Autorenherrlichkeit deuten. Denn es ist nicht der dirigierende Blick, der sich in diesem Bild darstellt.
Foto: Juan Gatti, in:
Mark Allinson: A Spanish Labyrinth. The Films of Pedro Almodóvar. I.B. Thauris, London, New York 2006, S. II
Die mediale Materialität der Figuren
Almodóvars Figuren sind immer schon gefunden, vorgefunden als Realität der Kunst, der Fiktion, der Unterhaltungskultur, der Medien. Den umliegenden Reichen der Populärkultur, des Fernsehens, des Theaters, der Literatur entstammend, sind sie immer schon geklont. Sie treten als Erscheinungsformen des sentimentalen Bewusstseins (als eine gespiegelte Dopplung, eine Gegensatzpaarbildung, als eine Versetzung von einem Genre oder von einem Medium in ein anderes) in die Welt der Filme Almodóvars ein, verschmelzen und teilen sich in immer neuen perspektivischen Anordnungen. Die Figuren bringen stets bereits ein eigenes Leben, ein Vorleben mit, ein Set von Bewegungsgesetzen und Handlungsmöglichkeiten, die es zu erkunden gilt. Sie sind in ihrer Eigengesetzlichkeit zu begreifen, in ihren Kraftlinien und ihren Beziehungsmöglichkeiten zu verstehen: Was ist in ihnen an affektivem und gedanklichem Potential angelegt? Welcher Radius an Erfahrungsmöglichkeiten ist mit ihnen auszumessen?
Für die Figuren Almodóvars gilt im Besonderen, was Stanley Cavell im allgemeinen formuliert hat: Sie haben ein Leben, das dem unseren gleicht und doch von diesem grundverschieden ist; sie sind Projektionen analoger Weltverhältnisse, von denen wir doch radikal ausgeschlossen bleiben.5 Die Figuren setzen sich zusammen aus unterschiedlichsten Blickwinkeln auf unsere alltägliche Erfahrungswelt und sind doch nicht ablösbar von der poetischen Ordnung, die sie – als Teil der Welt der Kunst – hervorbringt. Deshalb sind sie auch nicht unseren Gesetzen, nicht unserer Moral, nicht unserer Psychologie, ja nicht einmal unserer Physiologie unterworfen. Sie können
töten, ohne Schuld auf sich zu laden, wie Gloria in ¿QUÉ HE HECHO YO PARA MERECER ESTO!! und Raimundas Tochter Paula (Yohana Cobo) in VOLVER, oder sich scheinbar mühelos von schwerarbeitenden Lastwagenfahrern zu vollbusigen Frauen in falschen Chanelkostümen verwandeln wie Agrado (Antonia San Juan) in TODO SOBRE MI MADRE.
In gewisser Weise kennen diese Figuren daher auch keinen Tod. Wenn sie tatsächlich einmal sterben, dann nur, um in einem der nächsten Filme wieder aufzuerstehen – als Charakterzug, als Name, als Schauspielerin.
Sie entstehen aus Konfigurationen von gedoppelten Figuren, genetischen Ableitungen, gespiegelten Verkehrungen und Kurzschlüssen zwischen den Schauspielern, der Produktionsrealität, der filmischen Fiktion und der Realität der Zuschauer. Es ist, als walte zwischen ihnen ein nichtorganisches Leben, in dem noch der größte Schmerz in einer komischen Szene zum Guten gekehrt werden kann. Ihnen scheint noch die Möglichkeit gegeben, sich aus sich selbst heraus zu vermehren, sich zu teilen und zu regenerieren. In dem Film LA LEY DEL DESEO (DAS GESETZ DER BEGIERDE, E 1987) rückt mit der Figur des Regisseurs Pablo (Eusebio Poncela) dieser Akt ihrer Vermehrung selbst ins Zentrum der Darstellung. Fortan ist die Erfindung und Selbsterfindung, das Schreiben und Fortschreiben einer Figur durch andere Figuren, ihre wechselseitige Erzeugung als geschriebene, gefilmte, inszenierte Projektionen ein konstitutives Element der Figurenkonstruktion in den Filmen Almodóvars.
LA LEY DEL DESEO
(DAS GESETZ DER BEGIERDE)
Pedro Almodóvar, E 1984
Ausschnitt 1: 14. bis 15. Minute
Ausschnitt 2: 18. Minute
Ausschnitt 3: 23. bis 24. Minute
Ausschnitt 4: 26. Minute
Ausschnitt 5: 30. Minute
Ausschnitt 6: 35. bis 36. Minute
Ausschnitt 7: 49. bis 51. Minute
Ausschnitt 8: 60. bis 65. Minute
Ausschnitt 9: 68. bis 71. Minute
Ausschnitt 10: 80. Minute
Ausschnitt 11: 82. bis 83. Minute
Man hat dieses Darstellungsprinzip immer wieder als Selbstreferenzialität thematisiert und darin ein Charakteristikum postmoderner Poetik gesehen. Doch die vielfältigen Verweise auf alle Bereiche der Kunst und Populärkultur folgen keineswegs der Logik ironischer Selbstkommentierung oder des postmodernen Zitats. Weder die inneren Bezüglichkeiten des Werkes noch die intertextuellen Verweise sind für sich genommen bedeutsam. Vielmehr bilden die Verweisstruktur selbst, das dicht geknüpfte Netz der Bezüglichkeiten den materialen Grund der Figuren, das Medium, in dem sie zur Darstellung kommen. Das Echo der Reminiszenzen, das Netzwerk intertextueller Verweise, bezeichnet den spezifischen Seinsgrund der filmischen Figuren, ihr Lebenselement – ihre mediale Materialität. Deshalb sind die Figuren nicht abzulösen von den relationalen Bezügen, perspektivischen Spiegelungen und Verkehrungen: Sie bestehen aus nichts anderem als aus diesen Bezügen. Von Film zu Film verbinden sie sich zu einem wahren Spiegelkabinett von Figurinen, die sich gegenseitigen doubeln, parodieren, travestieren oder ins Gegenteil verkehren. Es ist dieses Spiel mit einem sich selbst generierenden System von Schauspielern und Figuren, das die Filme Almodóvars mit überbordendem Leben erfüllt; ein Leben, das durch und durch künstlich ist und doch die Realität unserer Gefühlswelt trifft. Die Figuren scheinen uns aus der Seele zu sprechen, obwohl sie uns deutlich als höchst artifizielle Konstrukte menschlicher Seelenzustände vor Augen stehen. Sie formieren sich zu einem Ornament möglicher Blicke auf ein menschliches Leben, das frei ist von der Last, ein Mensch zu sein.
Von Film zu Film werden die Gesten, die Phrasen und Stereotypen des sentimentalen Bewusstseins aufgenommen, um aus der monopathischen Eindimensionalität des melodramatischen Pathos herausgelöst zu werden. Sie verbinden sich zu Figurationen, die an die Stelle der psychologischen Hierarchien von Innen- und Außenwelt, objektiv und subjektiv, Imagination und Wahrnehmung die Relativität sich gegenseitig definierender, verschiebender, spiegelnder Perspektiven setzen.
So ist Raimunda aus VOLVER – in der prompten Reaktion, mit
der sie ihre Tochter zu schützen weiß – nicht nur eine Antwort auf die ihr im Film zugeschriebene Vergangenheit (sie wurde von ihrem Vater missbraucht), sondern zugleich eine neue Perspektivierung der Mutterfigur, die in den vorhergehenden Filmen entwickelt wurde. Wenn Raimunda unter harter Arbeit die Schuld der Tochter buchstäblich verschwinden lässt – die Unmengen von Blut und die Leiche des erstochenen Mannes –, wenn sie noch im ersten Schock, nicht wissend, was zu tun ist, der Tochter die Direktive gibt: "Was immer passiert, ich bin es gewesen, die ihn getötet hat", dann stellt die Figur gleichsam den Gegenschuss, die perspektivische Umkehrung jener Mutter dar, die Marisa Paredes in TACONES LEJANOS verkörpert: Becky, die berühmte Chansonniere, die auf der Bühne von der unendlich sorgenden Liebe singt, die aber – vollends eingenommen von ihrer Karriere und ihren Männergeschichten – ihrer Tochter Rebeca gegenüber eine Mutter nur der biologischen Zuordnung nach abgibt. Becky ist in der egozentrischen Haltung, mit der sie ihren Wünschen nach Zuwendung und Aufmerksamkeit folgt, ein Kind, ein ewiges Mädchen wie Pepi und Bom, das niemandes Frau, niemandes Mutter und niemandes Tochter sein will.
Für Becky besteht ein unendlicher Gegensatz zwischen der geschlechtlichen Liebe und dem Liebesbedürfnis der Tochter; für sie ist es unmöglich, zugleich ein Mädchen wie Pepi und eine Mutter wie Raimunda zu sein; unmöglich, zugleich der kindlichen Sehnsucht und dem sexuellen Begehren zu genügen. Erst auf dem Sterbebett wird sie zu dem, was Raimunda in VOLVER von Anfang an ist: eine liebend-schützende Mutter. Becky tilgt die Schuld der Tochter, lässt diese auf immer begraben sein, indem sie sich selbst, bevor sie stirbt, der Mordtat bezichtigt. Erst als Leiche ist dieser Körper der Tochter erreichbar; Rebeca kriecht, nun selbst ganz Kind, zu der gestorbenen Mutter ins Bett. Wie um das Versagen dieser Mutterfigur zu korrigieren, erfindet die Darstellerin Marisa Paredes in ihrer nächsten Rolle in LA FLOR DE MI SECRETO als Schriftstellerin Leo die Geschichte einer guten Mutter: Leos neuster Roman kolportiert eine Geschichte, die Raimunda in VOLVER die Handlungsanweisungen liefert, dank derer sie ihre Tochter zu beschützen weiß; sie erfindet die Frau, die ihren von der Tochter erstochenen Ehemann in der Gefriertruhe eines zum Verkauf stehenden Restaurants verschwinden lässt.