5.2 Die geliebte Stimme
Noch die Stimme der Mutter am Telefon markiert eine Umkehrbewegung, mit der ein zentraler Komplex sentimentaler Pathetik aufgelöst wird. Das Motiv wird explizit in LA LEY DEL DESEO eingeführt: Paolo, der erfolgreiche Filmregisseur, inszeniert "Die geliebte Stimme" ("La Voix humaine", 1930), ein Theaterstück von Jean Cocteau. Er verbindet in dieser Inszenierung die Logik der Verführung mit der Sehnsucht nach der abwesenden Mutter und dem Schweigen der leidenden Frau.
Im Bühnenvordergrund wird ein Mädchen auf einem Wagen an der Rampe entlang von einer Seite der Bühne zur anderen gefahren: Es mimt gleichsam den Vorhang, der das Spiel eröffnet und beschließt. Ihre Gesten untermalen wie ein grobschlächtiges Playback Jacques Brels Chanson "Ne me quitte pas". Im Bühnenhintergrund sehen wir Carmen Maura, die als Transsexuelle Tina eine Frau spielt, die auf den Anruf des Geliebten wartet. Sie demoliert mit demonstrativ dilettantischen Gesten das Mobiliar. Jeder Schlag ist von dem abgesetzten Kampfesschrei begleitet, den sie bereits als Putzfrau Gloria in der asiatischen Kampfschule eingeübt hat – die stilisierte Geste einer sprachlosen Wut. Tina, die Schwester des Regisseurs, die vor ihrer Geschlechtsumwandlung sein Bruder war, ist, wie Gloria, aus dem erotischen Spiel der Männer ausgeschlossen; für die übrigen Figuren fungiert sie
als Platzhalter, der den geliebten anderen vertritt, der ihnen allen fehlt: Sie putzt und sorgt für Pablo, ihren Bruder, der keine Ehefrau wie Gloria hat; sie wird zur Geliebten von Antonio (Antonio Banderas), der sie lediglich benutzt, um den Bruder zu besitzen. Und dem Kind an ihrer Seite, mit dem sie Theater spielt, ersetzt sie die Mutter.
Das Telefon klingelt, Tina stürzt zum Apparat. Das Chanson Jacques Brels vertritt in der Wahrnehmung der Zuschauer die Stimme des abwesenden Geliebten, der Tina verfällt. Beides, die Verführung der Stimme am Telefon und das Sentiment des Chansons, wird mit der Trennung von der Mutter verknüpft. Denn während auf der Bühne das Stück Cocteaus abläuft, sehen wir das Mädchen, nach seinem ersten Auftritt, in der Garderobe. Unvermittelt taucht dessen wahre Mutter auf. Die Freude des Kindes wird zur Wut, als sie von den Zukunftsplänen der Mutter erfährt. Richten sich diese doch an den Wünschen der Männer, nicht an denen der Tochter aus. Wenn das Mädchen erneut, nunmehr in entgegengesetzter Richtung, auf dem Wägelchen über die Bühne gezogen wird, das Ende der Vorstellung mit der gleichen Playback-Nummer einleitet, wird Brels Lied die Trennung von der Mutter besingen, von der sich das Kind trotzig-verletzt abgewandt hat. Plötzlich wird das Mädchen aufhören zu spielen und stattdessen zu weinen beginnen.
LA LEY DEL DESEO (DAS GESETZ DER BEGIERDE). Pedro Almodóvar, E 1987 (37. bis 42. Minute)
Die Logik der Verführung und die Sehnsucht nach der Mutter
In Almodóvars nächstem Film, MUJERES AL BORDE DE UN ATAQUE DE NERVIOS, ist die "geliebte Stimme" zum zentralen Thema geworden. Der Film entwickelt dieses Motiv als das grundlegende Prinzip der Verführung:
MUJERES AL BORDE DE UN ATAQUE DE NERVIOS (Frauen am Rande des Nervenzusammenbruchs). Pedro Almodóvar, E 1988 (2. bis 5. Minute)
Iván (Fernando Guillén), eine Variante des Don Juan mit russisch klingendem Namen, verfügt zwar nicht wie sein Vorbild, Mozarts Don Giovanni, über die betörende Macht des Gesangs, doch er versteht es, über endlos verschaltete Telefone, Anrufbeantworter und Mikrophone seine mit sanftem, einfühlsamem Timbre gesprochenen Sätze wie Fallstricke auszulegen, in denen sich die Frauen verfangen. Er ist die Synchronstimme, die auf die stumme Frau auf der Leinwand einspricht.
Iván und Pepa sind beide als Sprecher in einem Synchronstudio beschäftigt (die Synchronstimme ist ein Motiv, das ebenfalls bereits in LA LEY DEL DESEO eingeführt wird). Sie bearbeiten einen Western, in dessen Mittelpunkt ein ganz und gar untypischer Revolverheld steht: Johnny Guitar, der von Sterling Hayden gespielte Titelheld aus Nicholas Rays Film (JOHNNY GUITAR – WENN FRAUEN HASSEN, USA 1954), der statt durch seine Waffen durch seinen Gesang zu betören sucht. Pepa hat den Arbeitsbeginn verschlafen, und Iván spricht seinen Teil des Dialogs alleine: der Mann, der auf die Frau einredet, um sie dazu zu bewegen, ihm ihre Treue und Ergebenheit zu beteuern. Wir sehen das Leinwandbild der stummen Joan Crawford, als würde sie sich unter den drängenden Worten des Mannes winden. Wenn Pepa die Antworten der Frau spricht, wird sie allein vor dem Mikro stehen. Ihre Worte werden in eine Leere hinein gehen, die Iván, ihr Geliebter, der sich ihr entzieht, ohne sich von ihr zu
trennen, mit seiner lockenden Stimme für sie bereitet hat.
Für Pepa ist Iváns Stimme, sei es im Synchronstudio, sei es am Anrufbeantworter, ein stets gerade verblassendes Moment seiner Anwesenheit, eine sich im Moment des Hörens auflösende Spur seiner gerade vergangenen Gegenwart – der Nachklang eines sich entfernenden Körpers, den sie stets um Minuten, ja Sekunden verfehlt. Bis Pepa endlich begreift, dass ihre Liebestollheit nichts anderes ist als ein Wahn, den Iván mit seinem Fort-da-Spiel strategisch erzeugt.
In der Theaterszene in LA LEY DEL DESEO ist diese Verführungskunst, ist das Motiv der geliebten Stimme, an die Fähigkeit gebunden, den Ort einzunehmen, von dem aus die Stimme der abwesenden Mutter spricht. Eben dies ist das Thema in TACONES LEJANOS:
TACONES LEJANOS (HIGH HEELS - DIE WAFFEN EINER FRAU). Pedro Almodóvar, E 1991 (Ausschnitt 1: 14. bis 15. Minute; Ausschnitt 2: 21. bis 25. Minute)
Letal (Miguel Bosé) sucht Rebeca zu verführen, indem er in der mimetischen Spiegelfechterei der Travestie sich selbst zum Körper der geliebten Stimme macht. Seine Kostümierung, die exaltierten Gesten der Schlagersängerin aus längst vergangenen Tagen und die Playbackstimme, verwandeln seinen Körper in einen Fetisch, der den Mutterleib selbst vertritt. Er sei ihr Freund, erklärt Rebeca ihrer Mutter Becky, als diese sich in der Dragqueen auf dem Plakat, das die Travestieshow Letals ankündigt, ganz und gar nicht wiedererkennen kann. In seine Show habe sie sich geflüchtet, sagt Rebeca, ein Kind – das sich die Rückkehr der Mutter vor Augen führt, um die Angst der Verlassenheit zu bewältigen.
Mit Becky, der Sängerin, wird in TACONES LEJANOS die Stimme der abwesenden Mutter auf ähnliche Weise zum leitenden Thema wie die Stimme des Verführers in MUJERES AL BORDE DE UN ATAQUE DE NERVIOS. Während dort der Don Juan mit seinen elektronisch verbreiteten Zuflüsterungen Pepa umzingelt, ist es hier ein von der Mutter gesungenes Liebeslied, das in einem doppelten Sinne das Liebesobjekt als abwesenden Körper imaginiert: als das Du, an das sich das Liebeslied wendet, und als der Körper der Sängerin, der Körper der Stimme, der exaltierten Bühnengesten, die eine Umarmung imaginieren, die nicht stattfindet. Im selben Moment, indem Becky auf der Bühne von der unendlich aufopfernden Liebe singt, krümmt sich Rebeca im Gefängnis, als wäre dieser Gesang, den sie im Radio hört, ihr zur Folter geworden.
Am Ende des Films kriecht Rebeca zu der toten Mutter ins Bett, ein anwesender Körper, dem die Stimme, der Atem fehlt. Für sie, die Tochter, ist Becky, die Mutter, das geliebte Objekt, das sich beständig ihrem Verlangen entzieht. Die geliebte Stimme, das ist die Mutter, deren Abwesenheit sich in eine insistierende Sehnsucht verwandelt hat.
In LA FLOR DE MI SECRETO erfährt dieses Motiv eine grundlegende Wendung, bezeichnet die geliebte Stimme doch nicht mehr, wie in den Filmen zuvor, die Sogkraft des abwesenden, geliebten Körpers. Das nervende Gerede der
Mutter auf dem Anrufbeantworter ist vielmehr ein erstes, wie auch immer schwächliches, unspektakuläres In-Beziehung-Treten mit der äußeren Welt. Ihre Stimme hat gleichsam die Seite gewechselt und bildet nun den Gegenpol zu den Verführungskünsten des Don Juan, der hier durch Paco vertreten wird. Wenn Leo im Hof des Hauses der Mutter in den Gesang der Spitzenklöpplerinnnen einstimmt, dann ist dieser Gesang der Ausdruck jener Kraft, die der Figur zu einem erneuerten Leben verhilft. Was sich in LA FLOR DE MI SECRETO als lyrisches Intermezzo formiert – die Figurationen einer mütterlichen Liebesordnung im Bild des Dorfes der Frauen –, wird in TODO SOBRE MI MADRE und VOLVER zum grundlegenden Thema. Von diesen letzten Filmen aus betrachtet scheint eine Bewegung kenntlich zu werden, die sich von Film zu Film fortsetzt, sie alle, vom ersten bis zum letzten, verbindet. Als durchquerten die Filme Schicht um Schicht die Erscheinungen einer zerstörten Sozialität, auf der Suche nach einem Bild des mütterlichen Glücks. Und dieses Bild ist eng mit dem Motiv der Stimme verbunden. Die Teilungen, Verzweigungen und Transformationen dieses Motivs bilden gleichsam den Ariadnefaden in den Irrgärten des sentimentalen Bewusstseins: Der Schrei, der am Anfang von PEPI, LUCI, BOM Y OTRAS CHICAS DEL MONTÓN steht, und der Schrei, der in LA FLOR DE MI SECRETO aus dem Fernseher kommt, der Gesang Leos und der von Raimunda, die nach langen Jahren des Schweigens wieder singt, die Stimme Beckys im Radio und der Schrei der Mutter, der in TODO SOBRE MI MADRE gleich in den ersten Minuten in Szene gesetzt ist.