Zur Übersicht
translation missing: de.zurueckVor

2.3 Die individuelle und die individuierende Geste

Von einer Einfühlung zur selben Empfindsamkeit


Was aber ist dann der soziale Gestus? In einem ersten Schritt scheint Brecht mit dem erzählenden Schauspieler das gestische Material dem sprachlichen anzunähern. Der soziale Gestus setzt sich gleichermaßen aus Gesten, Mimiken und Wörtern zusammen:
Unter einem Gestus sei verstanden ein Komplex von Gesten, Mimik und für gewöhnlich Aussagen, welchen ein oder mehrere Menschen an einen oder mehrere Menschen richten.12
Schon diese Angleichung von sprachlichem und gestischem Material markiert eine signifikante Verschiebung gegenüber dem herkömmlichen Verständnis von Geste. Ist doch der Gegensatz von Wort- und Gestensprache eine der grundlegenden gedanklichen Voraussetzungen der auf Einfühlung gerichteten Schauspielkunst. Denn Einfühlung meint keine autosuggestive Trance-Technik, mit deren Hilfe sich der Zuschauer der Unterscheidung zwischen Bühnengeschehen und Realität entledigt, sondern eine Art mimetischer Wahrnehmung, die sich wesentlich auf nicht-sprachliche, eben auf gestische Ausdrucksformen bezieht.

Noch heute ist in diesem Sinne das Verständnis des Wortes >Geste< wesentlich durch die Vorstellung von einem unmittelbaren, körperlichen und stummen Ausdruck individueller Empfindungen geprägt. Mimik und Geste verbürgen gerade in ihrem Gegensatz zur sprachlichen Vermitteltheit und zur sozialen Konvention die Wahrhaftigkeit des sich selbst nicht entfremdeten, natürlichen Ausdrucks innerlicher Empfindung; und es ist dieser Wortsinn, der auf der Höhe der Aufklärung durch die Idee einer neuen Schauspielkunst zum grundlegenden psychologischen Modell

des bürgerlichen Individuums wird. Das heutige psychologische Verständnis von Geste, Gebärde und mimischem Ausdruck findet seinen Grund in einer Poetik der Schauspielkunst, die das Theater als Medium begreift, in der sich das Individuum in seiner verschwiegenen Innerlichkeit zur Geltung bringt.

Damit ist nicht der Auftritt bürgerlicher Individuen auf der Bühne gemeint; diese Innerlichkeit und diese Individualität waren durch das Theater erst herzustellen. Innerhalb der Poetik des empfindsamen Schauspielers wird der Sinn für den gestischen Ausdruck zum Keim einer neuen Subjektivität, zum Ausgangspunkt eines Individuierungsprozesses, dessen Ort und Praxis das Theater sein sollte. Das Theater hatte die Empfindsamkeit durch die Übung der Einfühlung zuallererst zu produzieren. In diesem Sinne spricht Lessing vom individuierenden Gestus. Dieser stellt keine bestehenden Gefühlswelten dar, sondern bringt die Empfindsamkeit im Akt des Zuschauens erst hervor.

Damit rückt der Körper des Schauspielers ins Zentrum des bürgerlichen Theaters. Wird doch der auf der Bühne exponierte Körper zum Gegenstand der Übung der Einfühlung. In der Mimesis der Zuschauer an die Illusion eines empfindenden Individuums wird die Empfindsamkeit zu einer gesellschaftlichen, zu einer politischen Realität.13 Genau in diesem Sinne aber könnte man auch Brechts sozialen Gestus deuten, der nun seinerseits auf eine ausstehende, neue Form der Subjektivität abzielt, die sich nicht mehr durch das Individuum realisieren lässt. 


Eine Vielheit von Verhaltens- und Empfindungsweisen


Die Poetik des empfindsamen Theaters begründete eine Schauspielkunst, die bis heute als Norm psychologischen Realismus diskutiert wird14 – obgleich die Form dessen, was als realistisch gilt, sich den jeweiligen Zeitläuften gemäß verändert hat. Wenn Brecht gegen diese Norm polemisiert, dann weil im konventionellen Verständnis psychologischer Schauspielkunst die Differenz zwischen individuellen und individuierenden Gesten längst verlorengegangen ist: Die Schauspieler repräsentieren in der Illusion der Figur eine naturgegebene Wirklichkeit alltäglicher Individuen, deren Empfindungsweise den Zuschauern so vertraut ist, dass sie ihre eigenen Gefühle mühelos in denen der Figur wieder zu erkennen meinen. Auf diesen verkürzten Begriff von Einfühlung bezieht sich Brecht, wenn er schreibt,
daß die Charaktere so dargestellt werden, als könnten sie gar nicht anders sein; als Individualitäten (nach dem Wortsinn Unteilbarkeiten von Natur aus, "aus einem Guß"), als sich beweisend in den verschiedensten Situationen [...]15
Brecht argumentiert gegen ein Verständnis von Einfühlung, dass die Aktivität der Zuschauer auf die Identifikation mit den nur allzu vertrauten Gefühligkeiten reduziert. Diesem Akt der Selbstbespiegelung setzt er den V-Effekt und die Distanz entgegen. Dass es ihm dabei keineswegs um die Vertreibung der Empfindung durch den Intellekt geht, wird deutlich, wenn er schreibt, dass der gute Schauspieler eben mehr als nur die Gefühle seiner Figur zu zeigen, nämlich diese zugleich auf andere Empfindungsmöglichkeiten zu beziehen habe:
dies bedeutet nicht, daß er [der Schauspieler, E. v. H.K.], wenn er leidenschaftliche Leute gestaltet, selber kalt sein muß. Nur sollten seine eigenen Gefühle nicht grundsätzlich

die seiner Figur sein, damit auch die seines Publikums nicht grundsätzlich die der Figur werden. Das Publikum muß da völlige Freiheit haben.16

An anderer Stelle heißt es dazu:
Zwar kann der Schauspieler dadurch >begriffen< werden, daß er, indem er selber Trauer empfindet, Trauer erzeugt, aber dann entlädt er nur die Einbildungskraft des Zuschauers, statt seinen Kenntnissen etwas hinzuzufügen, was mehr ist. Man könnte sagen, der Gefühle Erlebende vermehre doch seine Kenntnis von sich selbst, aber eben das ist nicht gut: Mag er lieber lernen, sich zu vernachlässigen, was seine Gefühle anlangt, und (die anderen) der anderen erfahren! Sogar seine eigenen erfährt er besser, wenn sie ihm lediglich vorgehalten werden wie die eines anderen!17

Im Vordergrund steht die Unbestimmtheit des Gefühls, die Differenz zur allzu vertrauten Gefühligkeit. Brecht zielt mit diesen Überlegungen auf die Erfahrung einer Empfindungsweise, die anders ist als die dem alltäglichen Bewusstsein eignende. Er zielt auf eine offene Form des Schauspielens, der es gelänge, eine Vielheit unterschiedlicher Verhaltens- und Empfindungsweisen in ihrer Differenz aufeinander zu beziehen – statt von einer allgemeinen Psychologie des menschlichen Gefühlslebens auszugehen. Der Komplex dieses relationalen Gefüges ist der soziale Gestus. Genau in diesem Verständnis des Gestus als einer komplexen Darstellungsform kann man – mit Roland Barthes – einen Gedanken fortgeführt sehen, der sich bereits in Diderots Tableau vivant und Lessings >prägnantem Augenblick< angelegt findet.18 


Literaturangaben und Anmerkungen
12 Brecht, Bertolt: Über den Beruf des Schauspielers, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 15, Frankfurt/M. 1967, S. 409. [^]
13 Vgl. zu all dem Kappelhoff: Matrix der Gefühle, insbesondere S. 82f. [^]
14 Vgl. etwa Jörg Sternagel: Methodische Schauspielkunst und Amerikanisches Kino, Berlin 2005. [^]
15 Brecht, Bertolt: Kleines Organon für das Theater, in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 16, Frankfurt/M. 1967, S. 706. [^]
16 Ebd., S. 683. [^]
17 Brecht: Über den Beruf des Schauspielers, S. 408. [^]
18 Vgl. Kappelhoff: Matrix der Gefühle, S. 92-98 und S. 148-151. [^]

Zur Übersicht
translation missing: de.zurueckVor
translation missing: de.icon_seitenanfang
request.remote_ip=3.148.115.16