4.3 Verräumlichte Zeit
Das Kreisrund des Handlungsorts
Die Kamera löst sich vom Gang des Schauspielers, um die Bewegungslinie in einer eigenständigen Kreisbewegung weiterzuführen. Dieses Kreisen gibt fortan die Grundbewegung vor; in ihr entfaltet die Kamera die insistierende Präsenz eines unnachsichtigen Blicks. In den vier, fünf Minuten des Musikstücks ist ein Bildraum entstanden, der die Spannung der Dialogfragmente und Blickachsen, der aufeinander treffenden Gesten und der Gänge der Figuren in eine Bewegung übersetzt.
So entsteht der Eindruck, als sei die Kreisbewegung bereits in der Montage der szenischen Fragmente enthalten, noch bevor
sie sich als eigenständige Kamerabewegung von dem Gang Lommels abhebt. Die Montage beschreibt in der Verteilung der Paargruppen nicht nur den gegebenen Raum, das Rund der Hotellounge, sondern zugleich die Kreisbewegung der Kamera. Wenn die Zuschauer dieses Rund schließlich als einen Handlungsort identifizieren, ist damit lediglich die erste Dimension des filmischen Bildraumes bezeichnet.
Nach dem Auftritt Lommels setzt ein neues Musikstück ein: "Suzanne" von Leonard Cohen. Der Song eröffnet den zweiten Teil der Eingangssequenz.
WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1971 (7. bis 10. Minute)
Die Produktion ist ins Stocken geraten, weil das Geld fehlt, weil das Filmmaterial fehlt, weil der Regisseur, weil Jeff fehlt. Laut werden die Anforderungen der Arbeit skandiert – Fassbinder/Sascha, der herumschreit, beschimpft, heftig diskutiert –, leise die Liebesdinge in Zwiegesprächen verhandelt – mal in Englisch, mal in Deutsch, mal in Französisch.
Die Parabel sozialer Verhältnisse
Die Eingangssequenz zeigt Schauspieler, die auf ihren Regisseur und Figuren, die auf ihren Autor warten; sie entfaltet einen Bildraum, in der dieser Zustand des Wartens sichtbar wird. In den Dialogen, den abfälligen Worten, die Neid, Missgunst und Begehrlichkeit artikulieren, wird dieses Bild semantisch als eine Parabel sozialer Verhältnisse präzisiert. Man könnte dieses als zweite Dimension des filmischen Bildraums bezeichnen.
Man muss sich die zeitliche Gliederung des gesamten Filmes vergegenwärtigen, um die spezifische Bedeutung dieser Sequenz zu erfassen. Nach dem Prolog (der Rede Schröters, die ca. drei Minuten lang dauert) ist die lange Einganssequenz
zu sehen, die ihrerseits durch drei Musikstücke untergliedert wird. Es folgt ein zehnminütiges Zwischenstück, das eine Abfolge knapper, nur lose verbundener szenischer Fragmente zeigt, die um die Ankunft des Regisseurs am Drehort gruppiert sind. Dann setzt in der neunundzwanzigsten Minute erneut der Reigen in der Hotellounge ein. Er wird diesmal gut fünfundzwanzig Minuten dauern, wiederum durch Popsongs gegliedert.
Erst mit Beginn der zweiten Stunde wechselt der Film sein Darstellungsprinzip: Gezeigt werden dann szenische Fragmente, die sich um die Dreharbeiten in der Villa gruppieren. Schließlich sehen wir einen Epilog, der einzelne szenische Miniaturen als lose verbundenen, reflexiven Kommentar aneinanderreiht.
Das Sichtbar-Werden des sozialen Gefüges
Während des größten Teils seiner Laufzeit bewegt sich WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE also in zwei Innenräumen: der Hotellounge, dem Wohnort der Gruppe, und dem Entree der Villa, dem Drehort des zu produzierenden Films. In wechselseitiger Spiegelung werden beide Innenräume als ein polyvalentes Bezugssystem entwickelt.
Einmal als Orte der Handlung, einmal als Allegorie sozialer Verhältnisse und schließlich als die Zeit, in der die Künstlertruppe als ein soziales Gefüge sichtbar wird. Diese Zeit des Sichtbar-Werdens könnte man als die dritte Dimension des filmischen Bildraums bezeichnen.