Zur Übersicht
translation missing: de.zurueckVor

3.3 Ein ganz und gar künstliches Leben


Die schauspielerische Aktion vollzieht sich in einem beständigen Übergang zwischen den verschiedenen Realitätsebenen des Films, ohne je zu einem Abschluss in einer Figur zu finden. (Daher auch lassen sich zwischen den einzelnen Schauspielern wohl Unterschiede in der physiognomischen Typik und der Virtuosität, kaum aber in der Spielweise ausmachen.) Das Schauspiel entwickelt permanent neue Beziehungen zwischen den verschiedenen Registern der ästhetischen wie der alltäglichen Realität, ohne dass diese in eine klare Ordnung zueinander gebracht werden: das ist die fiktionale Realität der filmischen Narration und die dargestellte soziale Realität der BRD in der ersten Hälfte der siebziger Jahre; das ist die Realität arbeitender Schauspieler und die eines Kinopublikums, das sich diese Arbeiten ansieht; das ist die Realität fiktionaler Figuren aus anderen Filmen, aus Romanen und Dramen, und die der Leute, die diese Filme

sehen und diese Romane lesen.

In den frühen Filmen Fassbinders ist der Schauspielakt wesentlich durch diese Übergänge bestimmt, eine Art ritueller Wiederholung, mit der die Schauspieler von einem Realitätsmodus in einen anderen, von einer Wirklichkeit in eine andere wechseln. Von den unterschiedlichen Relationen, die dabei im Spiel sind, möchte ich einige kurz erläutern. Das ist zum einen die Referenz des Schauspielakts auf das alltägliche Verhalten, zum anderen die Beziehung zwischen alltäglichem Sprechen und literarischer Sprache; das ist weiterhin die Rhetorik der empfindungsvollen Geste, des psychologischen Schauspiels der Gefühle und endlich der Rückbezug auf den Schauspielakt selbst. Man wird diese unterschiedlichen Relationen kaum in reiner Form vorfinden, auch wenn in einzelnen Filmen die eine oder die andere Variante dominiert.



Für eine optimale Darstellung dieser Seite aktivieren Sie bitte JavaScript.
KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969 
 (25. bis 26. Minute)

Prägnant zeigt sich das beschriebene Darstellungsprinzip in der Beziehung des gesprochenen Dialogs auf die Alltagssprache. In KATZELMACHER ist es die in starre Formeln umgeprägte bayerische Mundart. Das Gerüst einer Kunstgrammatik der doppelten Verneinung und der deplatzierten unbestimmten Artikel vollzieht gerade keine Mimesis an die lebendige Umgangssprache. Es setzt vielmehr an die Stelle der täuschend lebendigen Sprache den toten Buchstaben. Auf diese Weise wird der mundartliche Duktus in ein Ensemble abstrakter Sprachgesten zerlegt. Von den Schauspielern werden diese wie die Worte einer ihnen unbekannten Idiomatik gesprochen, die sie gleichsam vom Blatt ablesen. Sie lesen die Sätze als Äußerungen eines ihnen fremden Lebens, und dieser Akt des Lesens wird zum primären Gegenstand der filmischen Darstellung. Nicht das Ergebnis der Lektüre — die


Für eine optimale Darstellung dieser Seite aktivieren Sie bitte JavaScript.
KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969 
 (44. bis 45. Minute)

Interpretation der dramatischen Figur durch den Schauspieler —, sondern der Akt selbst, das Durchbuchstabieren des Sprechgestus, rückt ins Zentrum des Dargestellten.

Die Lektüre des Schauspielers führt uns die Figur als die abstrakte gedankliche Realität eines uns radikal äußerlichen Lebens vor, eben als Literatur: PIONIERE IN INGOLSTADT (BRD 1971, TV), FONTANE – EFFI BRIEST32 (BRD 1974), BERLIN ALEXANDERPLATZ (BRD 1980) und Fassbinders letzter Film QUERELLE (BRD 1982) sind die prägnanten Beispiele einer höchst spezifischen Form der kinematografischen Auseinandersetzung mit dem Leben literarischer Figuren, die auf diesem Schauspielkonzept gründet.




Für eine optimale Darstellung dieser Seite aktivieren Sie bitte JavaScript.
KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969 
 (53. Minute)

Die Referenz auf das alltägliche Verhalten wurde bereits angesprochen. Sie steht im Mittelpunkt des Films KATZELMACHER. In diesem Film werden keine lebendigen Figuren vorgestellt, sondern Schauspieler präsentiert, deren Erscheinungsbild, Sprache und Gestus isolierte Gedanken- und Gefühlskomplexe beschreiben. Geste um Geste, Satz um Satz entfalten sie einen allegorischen Bilderbogen und variieren die Emblematik eines affektiven Typus, der sich der direkten Identifikation als Figur entzieht.





Für eine optimale Darstellung dieser Seite aktivieren Sie bitte JavaScript.
KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969 
 (47. Minute)

Statt des Ausdrucks lebendiger Gefühle sind die rhetorischen Gesten des Neids, der Angst, des Geizes, der Verachtung und der Gier zu sehen, statt eines organischen Zusammenhangs korrespondierende Zeichen des Immergleichen: der Liebeswünsche und des Liebeshandels, der Unterwerfung und des Betrugs. Wie in barocken Gemälden die Porträts schöner Frauen in ihrer sinnlichen Gegenständlichkeit die Allegorien der moralischen Versuchung und der Tugend darstellen, ist jedes Detail der Darstellung sozialer Realität vom Abstrakt-Sinnbildlichen infiziert. Von den Gesten lebendigen Empfindens, wie sie das psychologische Schauspiel hervorgebracht hat, werden nur die entleerten Attitüden zurückbehalten. So entfaltet sich in emblematischen Bildern eine Rhetorik der Emotionen und Begierden, die zum empfindungsvollen Ausdruck wie eine Totenmaske zur lebendigen Miene steht.



Dies bezeichnet die grundlegende Bedeutung des dritten Bezugssystems, die Referenz auf die ästhetische Realität der Schauspielrhetorik. Deutlich tritt dieser Bezug in jenen Filmen in den Vordergrund, die sich auf ein streng codiertes System theatralisierter Verhaltensweisen beziehen — etwa die frühen Gangsterfilme oder der Western WHITY (BRD 1971). Die Handlungsmuster des Genrekinos sind von ihrer linearen Narrativität gelöst und in Serien sich wiederholender und korrespondierender Gesten umgeformt. Hin- und hergehend zwischen dem Bezug auf das alltägliche Verhalten und den theatralisierten Gesten des Genrekinos, beschreibt die schauspielerische Aktion einen Raum, in dem von der Figur allein der Habitus sichtbar wird. Es ist eine brüchige Sichtbarkeit, die zwischen den Registern des mimetischen Verhaltens und dem Artefakt der zitierten Gesten des Gefühls entsteht: Das Schauspiel beschreibt mimetische Figurinen, wie sie Kinder entwerfen, die vor einem Spiegel ihren umschwärmten Star imitieren. In WHITY sind das etwa die Gesten des Cowboys, die Haltung eines mit Revolvern bestückten Körpers, das Ritual der Schlägerei und das Schlagen als Ritual, auf das die durchaus alltäglichen Verhaltensweisen bezogen werden. Die Figuren dieser Filme sind ‘Schauspieler, die viele Western- und Gangsterfilme gesehen haben.’33

Schließlich ist das Schauspiel noch in seinem Selbstbezug zu beschreiben, in seiner Rückwendung auf jene Dimension, die Brecht mit dem Gestus des Zeigens benannte: die Schauspieler in ihrer Realität als die Spielenden. In WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? (BRD 1970) erweist sich in Bezug auf

die Realität des Schauspielakts das grundlegende Darstellungsprinzip. Der Film zeigt Schauspieler bei der rastlosen Suche nach dem verlorenen Text, nach dem definitiven Gestus, und genau das sind dann ihre Figuren: Schauspieler, die überhastet nach einer sich entziehenden Ausdrucksgebärde greifen, die von einer verfehlten Geste in ein resigniertes Schweigen stolpern, welches mehr und mehr das Bild des hilflosen Schauspielers zum Vorschein bringt. In WARUM LÄUFT HERR R. AMOK? wird die Not des Schauspielers, der im Übergang zu seiner Figur immer wieder scheitert, der diese Figur beständig verfehlt und trotzdem nicht aufhört, nach ihr zu greifen, zum Bild der empfindsamen Figur.

Die Realität der Schauspieler kann sichtbar werden, gerade weil die Schauspieler keine integralen Figuren verkörpern: Es sind die Übergänge zwischen der gespielten Aktion und dem Bild der Schauspielenden vor dieser Aktion, ihr regungslos-stummes Warten zwischen den Gesten und Sätzen, die sie im nächsten Atemzug zu präsentieren haben, die sichtbare Leere der verstreichenden Zeit vor dem Auftritt. Diese Leerstellen gehen als strukturierende Elemente in die gestaltete Zeit des kinematografischen Bildes, in die Darstellung ein. So könnte man in KATZELMACHER das Schauspiel als Intervall zwischen dem Gesten-Setzen und dem Zustand des Wartens, zwischen dem Spielen und dem nur vor der Kamera Da-Sein beschreiben. Und dieses bloße Da-Sein des Gesichts, des Körpers für die Kamera wäre als Realität des Schauspielerensembles vom Gestus der Langeweile und des Wartens zu unterscheiden, der das dargestellte Gruppenleben prägt.



Für eine optimale Darstellung dieser Seite aktivieren Sie bitte JavaScript.
KATZELMACHER. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1969 
 (20. bis 21. Minute)







Es ist die verstreichende Zeit, wenn Irm Hermann ins Bild tritt und wartet, bevor sie den Gestus herrschsüchtiger Wut repetiert – ohne jede Anbindung oder Herleitung an ein Gefühlsleben der Figur. Die Schauspielerin, die auf ihren Einsatz wartet, lässt einen Resonanzraum entstehen, der genau jene Intensität des Ausdrucks erzeugt, die man im psychologischen Schauspiel von den lebendigen Gefühlsgesten erwartet.



In KATZELMACHER sind mit diesen Momenten des reinen Zeitverstreichens vor der Aktion, der Leere in den Gesichtern vor der Mimik und dem Habitus der Schauspieler vor der Geste Leerstellen ins Spiel eingeführt, die dem Film eine Lebendigkeit verleihen, welche dem Schauspiel per se fehlt: Es ist ein ganz und gar künstliches Leben. An WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE oder an CHINESISCHES ROULETTE (BRD 1976) lässt sich nachvollziehen, wie sowohl die Bewegung der


Kamera als auch die der Figuren zu einer choreographischen Raumbeschreibung verbunden werden, die dieses Leben als eine Kraft greifbar werden lässt, die durch die einzelnen Individuen hindurchgeht, sie in sich einschließt und in Beziehung setzt; die sie verbindet zu Paaren, Gruppen... zu einem Leben der Gemeinschaft, das in den künstlichen Figurationen filmischer Komposition Gestalt gewinnt.


Literaturangaben und Anmerkungen
32 Der vollständige Titel des Films lautet: FONTANE – EFFI BRIEST ODER: VIELE, DIE EINE AHNUNG HABEN VON IHREN MÖGLICHKEITEN UND BEDÜRFNISSEN UND DENNOCH DAS HERRSCHENDE SYSTEM IN IHREM KOPF AKZEPTIEREN DURCH IHRE TATEN UND ES SOMIT FESTIGEN UND DURCHAUS BESTÄTIGEN. [^]
33 "Ich mache keine Gangsterfilme, sondern Filme über Leute, die viele Gangsterfilme gesehen haben." Fassbinder zitiert nach Thomas Elsaesser: Rainer Werner Fassbinder, Berlin 2001. S. 72. [^]

Zur Übersicht
translation missing: de.zurueckVor
translation missing: de.icon_seitenanfang
request.remote_ip=18.118.254.83