4 Das Leben der Gemeinschaft: WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE
Gruppen und Kommunen
Im Mittelpunkt der ersten Filme Fassbinders steht die Gruppe: die Gangsterbande in LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD (BRD 1969) und GÖTTER DER PEST (BRD 1970) oder die Freundesclique in KATZELMACHER. Die Filme inszenieren die Gruppe als ein soziales Gefüge, das alle gesellschaftlichen Beziehungsmöglichkeiten in sich trägt; das sind die sexuellen, ökonomischen und emotionalen Tauschbeziehungen der Liebes-, Freundschafts- und Arbeitsverbindungen. Alle Beziehungen – nur nicht die der Familie. Die Figuren dieser Filme stammen von Vorbildern des Genrekinos ab, nicht von leiblichen Eltern. So könnte man in diesen vaterlosen Verbünden ein Bild freier Gemeinschaften vermuten.34 Doch sind die von den Fesseln der patriarchalen Ordnung entbundenen Verhältnisse zutiefst ambivalent dargestellt. Fassbinders frühe Filme zeigen die Gruppe als eine wild gewordene Geschwisterhorde nach dem Tod des Vaters.
Die Beziehungen innerhalb dieser Gruppen entwickeln sich nach ein und demselben Muster. Das Kleingeld der erotischen Attraktion figuriert wie das große Investment der Freundschaft als eingesetztes Eigenkapital im Geschäft zwischen Bankraub, Kleinkriminalität und alltäglicher Prostitution. Doch geht es hier nicht um die kritische Sicht auf die Ökonomisierung aller Beziehungen. Das Geld ist vielmehr der Transformator, der die emotionalen Bindungen nicht anders als die des Geschäfts in sexuell grundierte Machtbeziehungen übersetzt. Der Wunsch
nach Freundschaft, nach Liebe, nach sexueller Vereinigung scheint, wie der Wunsch nach Reichtum, unauflösbar mit einem Verlangen nach Unterwerfung und Überwältigung verbunden. Die Filme sind also weit davon entfernt, in der Gruppe ein Bild der Gemeinschaft zu entwerfen, in dem die patriarchale Vergesellschaftungsform überwunden wäre. Aber sie beziehen sich explizit auf eine solche Utopie; sie beziehen sich auf die Gruppe als Idee einer herrschaftsfreien Gemeinschaft, wie sie im zeitgenössischen politischen Diskurs zirkulierte. 1969, 1970... – das sind die Jahre, in denen sich dieses Gemeinschaftsideal aus der Erfahrung des Scheiterns auf dem Feld der klassischen politischen Öffentlichkeit ergab. Die Aufmerksamkeit richtete sich in der Folge verstärkt auf das soziale Bindegewebe der Familien- und Geschlechterverhältnisse. Die Gruppe erschien in diesem Kontext als eine Form der Kollektivität, die im selben Zuge die alten Liebes- und Familienverhältnisse wie die der Arbeit und der Ökonomie zu ersetzen vermochte – wenn nicht für die Massen, dann doch für die Wenigen. Sie repräsentierte ein Gesellschaftsideal, das die Realität der Kommune als überschaubarer Lebens-, Produktions- und Wohngemeinschaft der frei Liebenden, Arbeitenden und Diskutierenden erproben wollte. Angereichert mit der Emphase der Jugend-, Pop- und Hippiekultur wurde die Gruppe zu einer im Hier und Jetzt der falschen gesellschaftlichen Verhältnisse zu verwirklichenden Utopie von Sozialität – "Paradise Now!"
Die Künstlergruppe als Testfall und Übungsfeld
Das ist der Titel eines Stücks, mit dem das Living Theatre bei Auftritten in Paris und Berlin während des Mai 1968 Furore machte. Das Happening probte den Kurzschluss zwischen den realen gesellschaftlichen Verhältnissen und der Utopie befreiter Sinnlichkeit. Es feierte die Verschmelzungsphantasie einer unbegrenzten Liebesgemeinschaft, die sich aller Fesseln sozialer Konvention entledigt hatte. Die Vereinigung von Schauspielensemble und jugendlichem Publikum als Geknäule ineinander verschlungener Körper, die sich nackt auf der Bühne wälzen, behauptete diese Phantasie als unmittelbare Realität. Diese Utopie bildete die Projektionsfläche, auf der die frühen Filme Fassbinders nun ihrerseits sichtbar werden lassen, wie sich in die Realität der Gruppe die der Gesellschaft immer schon eingeprägt hat:
"Preparadise sorry now" lautete denn auch der Titel eines der ersten Fassbinderstücke, und WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE bezieht sich in der Schlusssequenz explizit auf das Stück des Living Theatre als Emblem zeitgenössischer Jugend-Politkultur.
In einem Hotel irgendwo am Meer in Spanien wartet ein Filmteam auf den Regisseur, den Star, das Förderungsgeld aus Bonn und das Filmmaterial. Unter den Wartenden eine Stimmung schwankend zwischen Hysterie und Apathie. Als der Regisseur Jeff (gespielt von Lou Castel) zusammen mit dem Star (gespielt von Eddie Constantine als Eddie Constantine) eintrifft, wird er sofort zum Mittelpunkt des Chaos. Wechselnde
Paare und Gruppen. Eddie, der in dem Team der meist zwanzig Jahre Jüngeren verloren wie ein Fossil wirkt, findet Kontakt zu Hanna (Hanna Schygulla spielt Hanna Schygulla). Währenddessen gehen die Vorbereitungen für den Film weiter. Jeff erklärt dem Kameramann eine besonders komplizierte Kamerafahrt und Eddie die Grundidee des Films: (Es) sei ein Film "gegen staatlich sanktionierte Brutalität".35
Die Inhaltsangabe trifft die Atmosphäre verworrener Orientierungslosigkeit, die den Film über weite Passagen beherrscht, bevor sich für die Zuschauer ein Raum, ein Ort, eine Handlungskonstellation abzeichnet. WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE inszeniert die Gruppe im Zustand des Wartens, der blockierten Handlungen, der gestauten Zeit als eine räumliche Figuration zwischen minutiöser Milieustudie und Groteske.
Der Film fragt dabei nach den Machtverhältnissen in den erotischen und emotionalen Bindungen einer Gruppe, die sich selbst durchaus als Gegenentwurf zur Realität gesellschaftlicher Beziehungen verstand. Denn WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE rückt eine Gemeinschaft in den Blick, die in jedem der bis dahin gedrehten neun Filme Fassbinders zugegen war: nämlich das Produktionsteam, das aus der Künstlergruppe des "antiteaters" hervorging, mit der Fassbinder seit 1967 arbeitete. Diese Künstlergruppe hat sich durchaus als Testfall und Übungsfeld einer neuen Form der Kollektivität gesehen.