8.1 Randgestalten des Riefenstahlschen Volkskörpers. Der ästhetische Genuss der Verschmelzung versus Capras analytische Polyphonie des Kinos
Gerade die Idealisierung des Bildes alltäglichen Zusammenlebens markiert den fundamentalen Unterschied zwischen diesem und jenem Propagandafilm, zwischen TAG DER FREIHEIT und PRELUDE TO WAR: Beide zielen auf einen Gemeinsinn, der gegensätzlicher nicht ausgerichtet sein könnte. An die Stelle einer Vielfalt von Religionen tritt die Vergötterung des Führers; an die Stelle der Familienbande die Militarisierung des sozialen Lebens; an die Stelle eines Individuums, das seinem Ethos im Raum der Öffentlichkeit Geltung verschafft, tritt die Schönheit der Inszenierung der
Staatsmacht; an die Stelle der Politik tritt der Terror.
Auf diesen fundamentalen Unterschied im Gemeinsinn zielt Capras Strategie der Dekomposition der gegnerischen Propaganda. Sie sucht den imaginären Kern der Bilder, den Krieg als Ideal faschistischer Vergesellschaftung freizulegen, um die Bedrohung des alltäglichen Lebens offensichtlich werden zu lassen. In Capras Memoiren heißt es dazu: “use the enemy’s own films to expose their enslaving ends. Let our boys hear the Nazis and the Japs shout out their own claims of master race crud – and our fighting men will know why they are in uniform.“37
Why We Fight, Episode PRELUDE TO WAR, Frank Capra, USA 1942 (19. bis 23. Minute)
Es ist schon erstaunlich, wie sehr es Capra gelingt, die Bildinszenierungen Riefenstahls gegen sich selbst zu kehren und in den Gesichtern der dort so nichtigen Randgestalten die Angst und das Entsetzen sichtbar werden zu lassen, die diese Vereinigungsorgien eben auch begleiteten.
Tatsächlich scheinen Capras kinematografische Analysen auch heute noch gültig; erfassen sie doch präzise das Vergesellschaftungsmodell, auf das sich das Pathos der Riefenstahlschen Filme gründet. Sie zeigen, wie die feindlichen
Propagandafilme in immer neuen Varianten die Gründung staatlicher Macht als rituelle Vereinigung des Einzelnen in einer Gemeinschaft proklamieren. Sie zeigen die Formierung der Massen zur ornamentalen Repräsentation der Macht ihres Führers. Sie zeigen die Auslöschung der Existenz alltäglicher Individuen zugunsten dieses Volkskörpers, der sich buchstäblich einem höheren Willen unterwirft. Schließlich zeigen sie, dass die feindlichen Filme selbst noch Anteil haben an diesem Spektakel, das den Krieg als den Verschmelzungsprozess feiert, aus dem dieser Volkskörper geboren wird.
Das Pathos der feindlichen Bilder wird als Feier des Krieges dechiffriert, der im Opfertod der Einzelnen die Lebensform einer neuen Volksgemeinschaft begründet: das Leiden und der Tod des Individuums erscheinen als das Opfer für eine Gemeinschaft, die dem individuellen Leben erst Sinn und Wert verleiht, indem es dieses Anteil nehmen lässt an der heroischen Welt der kriegerischen Führer der Nation.
Capras audiovisuelle Dekompositionen betreiben die Analyse faschistischer Filmästhetik mit kinematografischen Mitteln. Es ist vor allem diese Verbindung von Unterhaltungskino, ästhetischer Avantgarde und faschistischer Masseninszenierung, die Frank Capra an Riefenstahls Film beschäftigt. Und WHY WE FIGHT versucht, auf der Höhe dieser Synthese zu antworten. So könnte man schließlich sagen, dass Capra den TRIUMPH DES WILLENS als avantgardistische Filmpoetik zu übertrumpfen sucht. Das stimmt freilich nur soweit, als der Film die Wir- und Ich-Perspektiven, die sich den zeitgenössischen Zuschauern anbieten, wiederum in
wechselnden Modi und Darstellungsweisen des Kinos generiert. Wo Riefenstahl die avantgardistische Montagekunst nutzt, um ein homogenes ästhetisches Gefüge zu erzeugen, das es den Zuschauern erlaubt, die triumphale Verschmelzung alltäglicher individueller Körper zu einem kriegerischen Staatskörper ästhetisch zu genießen, vervielfältigt Capra in der heterogenen Struktur einander antwortender Inszenierungsstile und Darstellungsmodi die Standpunkte und Perspektiven. Er setzt dem wirkungsästhetischen Kalkül des Riefenstahlfilms ein analytisches Potential des Kinos entgegen, das in der Heterogenität seiner Formate, Darstellungsstrategien und poetischen Konzepte selber liegt. Sein Film nutzt alle Modalitäten des Kinos, um einen Streit zu entfachen, in dem die Formate und Modi des Kinos selbst als Stimmen, Haltungen und rhetorische Attitüden auftreten, die einander in polemischen Wendungen, entlarvenden Demaskierungen antworten. Diese Vervielfältigung der Darstellungsmodalitäten zieht die heroischen Selbstinszenierungen des Feindes aus dem Himmel ästhetischer Geschlossenheit in die Niederungen einer vielstimmigen Argumentation der Bilder.