07.2 Das audiovisuelle Spektakel uniformierter Massen und die Negierung des Einzelnen. Capras Analyse faschistischer Selbstdarstellungen
Dass dieses gemeinschaftliche Leben dem der Feinde diametral entgegensteht, wird in den folgenden Sequenzen herausgestellt. Der beschriebenen Eingangssequenz folgen gute zehn Minuten, die sich fast ausschließlich mit der ‚Welt der Sklaven’, mit Italien, Deutschland und Japan beschäftigen. Sie verfahren zunächst argumentativ; sie sprechen von
Gesellschaften, die ihre sozialen und ökonomischen Probleme nicht politisch zu lösen versuchen und sich stattdessen einem Führer unterwerfen. Dokumentaraufnahmen der zwanziger und frühen dreißiger Jahre werden als Erinnerungsbilder der großen sozialen Krisen aufgerufen, ehe der Film zügig zu den Bildern militarisierter Menschenmassen übergeht.
Why We Fight, Episode PRELUDE TO WAR, Frank Capra, USA 1942 (Ausschnitte aus 10. und 11. bis 13. Minute)
Einführung in die Welt der Sklaven
Die Parallelmontage der Auftritte des Duce, des Tennō und des Führers zeigt uns die Masse als einen gesichtslosen Gesamtkörper, der auf die theatralischen Reden der Herrscher – „The head of the state is the voice of god“ – mit dem immer gleichen Unterwerfungsritual antwortet: Der Triumph des staatlichen Willens vollzieht sich in der grandiosen Feier eines ekstatischen Gemeinschaftserlebens, mit dem ganze Völker ihre eigene Versklavung bejubeln. Die feindlichen Bilder werden als audiovisuelles Spektakel dechiffriert, das die Kinozuschauer, im ästhetischen Erleben, unmittelbar in diesen
Vereinigungsrausch einzubeziehen sucht.
Die nächsten Sequenzen deklinieren systematisch durch, in welcher Weise dieses Gemeinschaftserleben die grundlegenden Werte der Welt der Freiheit zerstört.
Das ist zum einen die Arbeit: Die propagandistische Selbstdarstellung eines sozialpolitischen Programms des NS-Staates wird hier zum Gegenbild derjenigen, die durch ihre Arbeit ihr individuelles Glück zu machen suchen.
Why We Fight, Episode PRELUDE TO WAR, Frank Capra, USA 1942 (14. Minute)
Die feindliche Welt der Arbeit
Das ist zum anderen die Religion: Das Motiv der Christenverfolgung verschmilzt mit dem Wissen um die Judenverfolgung. In dieser Perspektive erscheint die
Vernichtung der jüdischen Bevölkerung als ein weiteres Phänomen einer allgemeinen Religionsfeindlichkeit.35
Why We Fight, Episode PRELUDE TO WAR, Frank Capra, USA 1942 (16. bis 18. Minute)
Die feindliche Welt der Religion
Der Hass auf die Religion wird als Hybris staatlicher Souveränität dargestellt, die nicht nur den öffentlichen Raum zerstört, indem dieser zur Bühne wird, auf der sich die Führergestalten als göttliche Gewalten inszenieren: Der Staat,
der Führer, der Kaiser erheben Anspruch auf das ganze Leben der Einzelnen. So ist es schließlich die Sphäre, die den Kern von Intimität und Privatheit bezeichnet, die Kindererziehung, in der sich die Hybris des Staates am augenfälligsten darstellt.
Why We Fight, Episode PRELUDE TO WAR, Frank Capra, USA 1942 (18. bis 19. Minute)
Die feindliche Welt der Familie
Im Anspruch auf die physische Arbeitskraft der Einzelnen, ihren Glauben und ihre Kinder enthüllt sich die propagandistische Selbstdarstellung des faschistischen Staates als obszöne Hybris. Sie zerstört den öffentlichen Raum, indem sie diesen Raum zur Bühne der Selbstinszenierung gottgleicher Souveränität der Staatsführer macht. Der öffentliche Raum
wird Mittel zu diesem Zweck. Macht ist hier nicht länger eine Frage der öffentlichen Rede, sondern der nackten Gewaltanwendung, die sich in allen Lebensbereichen der Einzelnen Geltung zu verschaffen sucht. An die Stelle der Politik tritt der Terror des Staates.
Why We Fight, Episode PRELUDE TO WAR, Frank Capra, USA 1942 (14. bis 16. Minute)
Wechsel des Genres:
Die feindliche Welt der Politik
Um den Gegensatz von Terror und Politik sichtbar werden zu lassen, wechselt Capra erneut das Darstellungsregister und greift auf einen weiteren Modus des Genrekinos zurück. Die Sequenz könnte einem Gangsterfilm der dreißiger Jahre entstammen. Man mag das als einen rhetorischen Kunstgriff
abtun, der die Nazis mit dem Verbrechertum assoziiert. Entscheidend scheint jedoch weniger der moralische Subtext zu sein, als vielmehr die Vervielfältigung der Perspektiven durch die wechselnden Darstellungsmodi.