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6.3 Eine andere Empfindsamkeit kommt zur Sprache


"Mein Sohn ist tot." Wie ein Stundenschlag fügt sich dieser Satz, fügt sich die Geste des Schmerzes in den Ablauf des Geschehens ein, das immer weiter vorwärts drängt. Und doch wiederholt sich nur, was Manuela rückwärts zählend erinnert: vor siebzehn Jahren, vor achtzehn Jahren, vor zwanzig Jahren. Der Film zeigt – in der neuen Geschichte – noch einmal das gleiche Stück in veränderter Besetzung: die Geschichte von der Frau, die zur Mutter wird, und von der Frau, die einfach nur älter wird – die jenseits der Mutterschaft als Stimme gehört werden will, die einen Körper, ein Begehren, eine

Sinnlichkeit artikuliert... Er zeigt es als einen Prozess, in dessen Verlauf die Figur zu dem Schrei findet, der ihr am Anfang eben nicht möglich ist. Er zeigt es als ein Lautwerden, ein zur Stimme finden, zur Sprache kommen.

Wenn die Ärzte, das Übungsrollenspiel variierend, Manuela die Nachricht vom Tod des Sohnes überbringen, wird sie sich kurz aufbäumen und dann verstummen. Sie wird, wie alle melodramatischen Heroinen, zu einem stummen Leidensbild, das nicht sagen kann, was es quält.


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TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999 (50. bis 52. Minute)

Bis sie als Schauspielerin auf der Bühne steht, um endlich noch einmal die Stella zu spielen: die Figur, die aus dem Stück als Mutter entkommt und die Schwester als alternde Matrone und Hysterikerin zurücklässt. Manuelas Auftritt gipfelt in einem nicht enden wollenden, wehklagenden Schrei.








War der Schmerz bis dahin stumm, wird Manuela fortan aussprechen, was sie quält: erst, noch sehr verhalten, eine unsichtbare Stimme aus dem Nebenraum, wenn Rosa das Foto und die Notizbücher Estebans entdeckt; dann heftig bewegt, wenn sie Huma und Nina (Candela Peña) gesteht, dass sie sich wie Eve Harrington (Anne Baxter) – die Titelheldin aus ALL

ABOUT EVE – in die Garderobe des Stars geschlichen hat; schließlich wird Manuela von einem Weinkrampf geschüttelt, wenn sie auf die Frage von Rosas Mutter, ob sie selbst auch Kinder habe, antworten muss. Mal um mal wird die Auskunft artikulierter, die Sprache deutlicher.


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TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999 (79. bis 82. Minute)

Im letzten Teil des Films, auf dem Friedhof, bei der Beerdigung Rosas, werden ihr alle Worte der Klage und Anklage zur Verfügung stehen. Sie wird Lola, dem Mann, dem Kowalski des Stücks, der ihr in Gestalt einer weiblichen Totentanzfigur gegenübertritt, alles sagen: der gemeinsame Sohn, ihr Verlust, ihr Leiden. Manuela wird weinen und schreien: Er sei eine Epidemie, er sei der Tod selbst. Sie wird in der vollendeten Kunst der Schauspielerin genau jenen Ort bezeichnen, den Pepi und Bom noch umstandslos einnehmen konnten, wenn sie den Schrei der Empörung auf die Bühne des Punks getragen haben. 


Noch die Spielweise Cecilia Roths ist nur ein Verweis, eine, wenngleich gewichtige, Strebung in diesem Netz der Reminiszenzen. Sie mimt den psychologischen Authentizitismus der amerikanischen Schauspielkunst der fünfziger Jahre, der nicht zuletzt mit den Verfilmungen von Tennessee-Williams-Stücken zur Norm wurde, deren berühmteste eben A STREETCAR NAMED DESIRE ist. Sie spielt die Spielweise von Vivian Leigh und die von Gena Rowlands, sie spielt die Idee des Schauspiels der leidenden Frau, das Pathos der melodramatischen Heroine.

Durch ihre Spielweise wird die Figur Manuela zum Zentrum des Films, von dem aus sich die übrigen Figuren in ihren Selbstdarstellungen angeschaut, erkannt und verstanden sehen. Wem immer sie entgegentritt, wird Manuela zur mütterlichen Schwester, dergegenüber alle anderen zu Kindern werden: Sie ist eine Mitleidsfigur, eine säkulare Mariengestalt, die aus den Nöten töricht liebender Frauen umstandslos und wundersam herauszuhelfen weiß; Agrado, die sie vor ihrem Vergewaltiger rettet, dem diese sich achtlos ausgeliefert hat; Huma, der sie in ihrer verzweifelten Verliebtheit mit ihren Kenntnissen der Drogenszene beisteht; schließlich Rosa, die

als Ordensschwester an jenem Rollenentwurf scheitert, den Manuela perfekt umzusetzen weiß: Rosa nämlich wird bei dem Versuch, eine rettende, helfende, mitleidvolle Schwester zu sein, ein ganz und gar hilfsbedürftiges Kind – schwanger, krank, schließlich sterbenskrank, lässt sie sich von Manuela mütterlich umsorgen.

Rosa ist das Mädchen, das buchstäblich ausgelöscht wird, als es zur Mutter wird. Jenseits ihres Mädchenseins hat sie als Figur keine Existenz. Sie ist eine Figur, die in allem Trachten und Sinnen, ganz ähnlich wie Becky/Rebeca in TACONES LEJANOS, die Sehnsucht nach dem Kindsein verkörpert. Als das Mädchen, das endlich Kind sein will, verbindet sich Rosa mit Manuela zu einer Doppelfigur; fest verknüpft durch den neuen Esteban, ihren Sohn, der nun an ihrer Statt die Position des Kindes von Manuela einnimmt.

Manuela bildet eine Art Augenpunkt, eine Anschauungsform all’ der anderen Figuren, die immer wieder neu justiert und verschoben wird, um sich schließlich selbst als Objekt auf der Bildebene verortet zu finden. Die Art und Weise, in der sie durch Rosa noch einmal zur Mutter gemacht wird, noch einmal aus


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TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999 (89. bis 91. Minute)

Barcelona flieht, um dann noch einmal zurückzukehren, führt das Motiv der Zeitreise zu einem aberwitzigen Schluss. Am Ende ist diese Reise eine Wiederholung, in der das Leben Manuelas wie korrigiert und zurechtgerückt erscheint, wie ein neu inszeniertes, ein wieder aufgeführtes Stück, in dem sich alles noch einmal ganz anders einrichten lässt. Die Reise wird im selben Maße, wie sie in die Zeit der Mädchenjahre vor der Mutterschaft zurückführt, im selben Maße, wie sie eine Erinnerung, eine Wiederholung beschreibt, zu einer Spiegelung, in der die Positionen sichtbar werden, die das Leben der Frau auf die Stationen begrenzen, in denen sie gesellschaftlich existent ist: die Rollenfächer des Kindes, des heiratsfähigen Mädchens, der Mutter, der Matrone, der Greisin.


In den Figuren aber, die sich in Manuelas Mütterlichkeit spiegeln, kann sich eine Empfindsamkeit ausdrücken, die in ALL ABOUT EVE und GLORIA, in "A Streetcar Named Desire" und "Bodas de sangre" gleichermaßen zur Sprache drängt, ohne zu Wort zu kommen: Es ist die Sinnlichkeit der Musik von Pepi und Bom und das triumphierende Saxophon, das Gloria am Busbahnhof hört; es ist der Tanz, den Blanca tanzen würde, wenn der Sohn ihr die Bühne überließe; es

ist der Roman, den Leo schriebe, wenn sie es aufgäbe, die Position ihres Schreibens einem männlichen Ich zuzuweisen.

Es ist das Begehren, von dem "A Streetcar Named Desire" bereits im Titel handelt und das die Figur der Blanche bestimmt: Agrado wird die Gelegenheit nutzen, wenn sie, die Garderobenfrau, wie Eve Harrington und Manuela die Bühne erobert, weil beide Hauptdarstellerinnen ausgefallen sind.


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TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999 (72. bis 75. Minute)

Ihre Ansprache an das Theater- und an das Filmpublikum, in der sie die Kosten der kosmetischen Anstrengungen aufzählt, die erforderlich sind, um eine schöne Frau zu werden, wenn man zuvor ein Lastwagenfahrer war, verkündet den Triumph jenes Prinzips kunstvoller Selbstdarstellung, das von Blanche verkörpert wird. Das Stück, in dem Aufführung für Aufführung Blanche als täuschende Verführerin und hysterische Matrone beschimpft, vergewaltigt und weggesperrt wird, ist abgesetzt.


Am Ende des Films, zwei Jahre später, besucht Manuela Huma und Agrado in der Garderobe eines Theaters in Barcelona. Welches Stück auch immer gespielt wird, Huma trägt jugendlich wallendes Haar, halb Mädchen, halb reife Frau. Sie wird immer noch umsorgt von Agrado, mit kurz geschnittenem Haar halb schützender Vater, halb liebende Mutter oder doch ein burschikoses Mädchen. Nina, die Darstellerin der Stella, ist nicht mehr da. Als Manuela sich nach ihr erkundigt, wird mit großem Entsetzen berichtet, sie habe geheiratet. Nina ist, wie Luci in Almodóvars Debüt, zurückgegangen ins Haus der Familie.

Wenn im Nachspann der Film allen Schauspielerinnen gewidmet wird, die Mütter spielen, und allen Müttern, die schauspielern, formuliert die Hommage präzise, was der Film in Gänze zu entwickeln sucht: ein Bild, das alles über die Mutter zu zeigen sucht, indem es, an Stelle der einen Binnenperspektive, ein Spiel des permanenten Perspektivwechsels setzt – eine Art kinematografischen Kubismus, der im Bild der Mutter das Mädchen und die alternde Frau zeigt und zugleich jene Frau, die niemals Mutter, Matrone, Greisin ist. Am Ende des Films sind alle Blanche... Lola, Rosas Mutter, Manuela, Agrado und Huma – Frauen in den besten Jahren.


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