01 Visconti: die Sinnlichkeit einer anderen Zeit
Auf diese Filme bezogen sprach Deleuze mit Blick auf den Neorealismus von einem "Kino des Sehenden" der ersten Nachkriegsjahre. Er hatte damit Filme im Blick, in der die transparente Selbstverständlichkeit der Dinge der alltäglichen Erscheinungswelt sich im selben Maße in eine rätselhaft-opake Zeichenwelt verwandelt, wie der Glaube an ein handlungsfähiges Subjekt der Geschichte zerbrochen ist. So sehr dieses poetische Konzept in Viscontis frühen Filmen greifbar und evident ist, so wenig scheint es dort noch wirksam zu sein, wo ausdrücklich das Verhältnis zur geschichtlichen Vergangenheit thematisiert wird: in den Historienfilmen. Und doch zeugen gerade diese Filme – in dem Versuch, das Bild einer geschichtlichen Zeit vor den Katastrophen des 20. Jahrhunderts zu entwerfen – von einem Verständnis des Kinos als Raum eines historischen Bewusstseins, das dem Kracauers sehr nahe ist.
Viscontis spätere Historienfilme – IL GATTOPARDO (DER LEOPARD, I/F) von 1963, LA CADUTA DEGLI DEI (DIE VERDAMMTEN, I/CH/BRD) von 1969 und LUDWIG (LUDWIG II., I/F/BRD) von 1972 – gelten als hohe Kunst des Kinos. Dabei standen sie in der zeitgenössischen Diskussion durchaus in einem zweifelhaften Ruf. Beides hat seinen Grund in ein und
derselben Gegebenheit, die sich heute auf den ersten Blick erschließt: der Virtuosität der Mise en Scène, der Ausstattungskunst und der Schauspielführung. In der zeitgenössischen Diskussion wurde diese Virtuosität als Abkehr vom politischen Programm des Neorealismus und als Symptom eines überkommenen Kunstverständnisses und mangelnder gesellschaftspolitischer Durchdringung gewertet. Jenseits dieser Debatten um das Verhältnis von Kunst und Politik begründet sich in ihr eine ästhetische Dignität, die heute sinnfälliger denn je erscheint.
Doch drängt sich die Frage auf, ob sich in einer solchen rein ästhetischen Wertung nicht eine Sichtweise auf die Filme Viscontis fortsetzt, die bereits die zeitgenössische Kritik geprägt hat – wenn sich auch die Vorzeichen der Bewertungen geändert haben. Hier wie dort erscheinen die Filme in ihrem politischen Anspruch verkürzt. So als gründe ihr Blick auf die geschichtliche Welt Europas in einem rein ästhetizistischen Interesse an einer vergangenen, verfallenen Schönheit, dem die politische Intention des Autors äußerlich bleibt. Als herausragende Klassiker europäischer Filmkunst scheinen Viscontis Historiendramen selbst nur noch von historischem Interesse zu sein.
In der zeitgenössischen Diskussion verband sich mit der Virtuosität des Regisseurs eine Reihe von Attributen, die vor dem Hintergrund filmischer Realismuskonzepte mit gesellschaftspolitischer Intention höchst ambivalent erschienen. Da war zum einen das Etikett des Pessimismus, zum anderen das des Manierismus. Schließlich galt die Kritik dem dramaturgischen Prinzip mythologischer Überhöhung der dargestellten sozialen Welten. Die erste dieser Zuschreibungen betraf den elegischen Ton, den Umstand, dass diese Filme alle eine Welt im Moment ihres Verschwindens erfassen. Sie seien von einer Trauer durchdrungen, die der hohen Kultur vergangener Zeiten gelte – ohne den Optimismus des Morgens, der Jugend, des Kommenden. Ihrer elegischen Weltsicht fehle es an klar konturierter politischer Analyse. Eng damit verwoben war die zweite Zuschreibung. Sie zielte auf die dominante Stellung, die dem Dekor, der Ausstattung und der Mise en Scène in der Inszenierungsweise Viscontis zukam. Im Dekorativismus seiner Filme manifestiere sich ein manieristischer Stilwille, der sich mit der pessimistischen Weltsicht des Autors zu einem dekadenten Ästhetizismus verbinde. Die Schönheit der Filme sei die üppige Pracht des Verfalls. Der dritte Vorbehalt schließlich betraf die eigentümliche Dramaturgie, Viscontis Vorliebe für familiäre Beziehungskosmen, die, angesiedelt im Hochadel oder unter den absolut Reichen, auf eine mythische Überhöhung der dargestellten sozialen Beziehungen abzielten. Indem sie die sozialen und politischen Konflikte in den familiären
Konstellationen spiegelten, folgten seine Filme den Strategien melodramatischer Vereinfachung. Im Schicksal der ganz und gar Ungleichen, der alten und neuen Adelsgeschlechter, finde die geschichtliche Welt ihr Gleichnis.
Die pessimistische Weltsicht, der ästhetizistische Manierismus und die mythische Überhöhung: Man kann diese Attribute – freilich nicht in der negativen Bewertung – bis in die jüngste Literatur verfolgen.1 Für die zeitgenössische Diskussion aber stellten sie eine Zumutung dar. Denn anders als die Filme der jüngeren Regisseure – Antonioni, Pasolini und Fellini – wurden Viscontis spätere Arbeiten auf der Folie neorealistischer Programmatik wahrgenommen. Visconti war der alternde Neorealist, der in seinem Spätwerk einem morbiden Ästhetizismus, einer nihilistischer Weltverneinung huldigte, die man dem Künstler, ob seiner fraglosen Würde, freundlich nachsah. Dabei waren die jugendlichen Zeitgenossen in Italien, Frankreich, Deutschland oder New Hollywood kaum weniger formversessen. Nur wurde dort die Form filmischer Darstellung als ästhetisches Konzept verstanden und diskutiert, während sie bei Visconti schlicht als Weltsicht des Autors, als seine elegische Rede über die Welt und den Lauf der Geschichte gelesen wurde. Aber Viscontis Historienfilme entfalten kinematografische Bildräume, die nicht weniger als Konzeptionen einer spezifischen Bildlichkeit zu begreifen sind denn die Bildräume der Filme Antonionis oder Pasolinis.
Genau besehen weisen alle drei genannten Zuschreibungen zunächst und vor allem auf eine filmische Inszenierungsweise hin. Sie erhält aus der Dominanz von Schauspielführung und Raumgebung ihr spezifisches Gepräge. Die genannten Zuschreibungen betreffen deshalb auch alle Ausstattungsfilme Viscontis, gleichviel ob sie – wie SENSO (SEHNSUCHT, I 1954) – die Mitte oder – wie IL GATTOPARDO – die Höhe des Œuvres oder – wie LUDWIG – tatsächlich das Spätwerk bezeichnen. Dass sich diese Zuschreibungen vor allem mit den Historienfilmen verbinden, deutet darauf hin, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Frage nach dem Verhältnis der Gegenwart zur Geschichte und den Möglichkeiten des Kinos, ein kollektiv gültiges Erinnerungsbild hervorzubringen. Jedenfalls gehen die folgenden Überlegungen von der These aus, dass Visconti in seinen Filmen diesen Zusammenhang erkundet. Seine Historienfilme implizieren in ihrer poetischen Konzeption ein spezifisches Verständnis der ästhetischen Möglichkeit des Kinos, sich auf Geschichte zu beziehen – und damit ein spezifisches Verständnis politischer Filmkunst. So stellt sich zunächst die Frage nach den spezifischen kinematografischen Darstellungsformen, die in diesen Filmen entwickelt sind. Welches poetische Konzept des Kinos liegt ihnen zugrunde? Auf der Grundlage der analytischen Rekonstruktion einer den Filmen impliziten poetischen Konzeption des kinematografischen Bildraums ist die Frage nach dem Verhältnis der Filme zur Geschichte, Gesellschaft, zur Politik erneut aufzuwerfen.
Mit Blick auf die zeitgenössischen Vorstellungen eines filmischen Realismus schien diese Frage immer schon beantwortet: Die Filme repräsentieren einen (höchst partikularen, individuellen) Blick auf die geschichtliche Welt, dem sich die filmische Inszenierungsweise als akzidentielle Zutat, individueller Stil, historistische Detailgenauigkeit und manieristische Dekoration hinzufügte.
Im Folgenden möchte ich nun versuchen, diese Perspektive umzukehren: Setzt man nämlich keinen vorgängigen Repräsentationsmodus des filmischen Bildes voraus, sondern begreift die Inszenierungsweise selbst als Entwurf einer spezifischen Modalität ästhetischer Erfahrung, d.h. als Entwurf einer spezifischen Bildform, dann bleibt zunächst offen, auf welche Weise sich Filme überhaupt auf Geschichte beziehen, wie sie diese diskutieren, reflektieren und repräsentieren. Entlang der genannten Vorbehalte möchte ich eine filmanalytische Perspektive skizzieren, in der diese Umkehrung vollzogen wird. Dabei will ich mich zum einen auf den ersten Film der sogenannten "Deutschlandtrilogie" konzentrieren: LA CADUTA DEGLI DEI von 1969. Der Film stellt im Werk Viscontis, entsprechend seinem Sujet, den äußersten Punkt der Möglichkeit dar, das Kino als Medium historischer Erinnerung zu entwerfen. Zum anderen möchte ich mich ausführlicher auf SENSO von 1954 beziehen. Lässt sich an diesem Film doch der Entwurf eines Wahrnehmungsdispositivs beschreiben, das grundlegend bleibt für alle späteren Historienfilme.