2.1 Film und Schauspielkunst
Zum Verhältnis von Psychologik und Handlungslogik
In der klassischen Handlungsdramaturgie — sowohl des Erzählkinos wie des bürgerlichen Theaters — formuliert das Gesten- und Mienenspiel der Schauspieler einen indirekten Zeichenkomplex, der uns die charakterliche und psychische Verfassung der Figuren kenntlich werden lässt. Dieser mimische Subtext entfaltet in der Stilisierung des Verhaltens die psychologische Plastizität der Figur, während das Verhalten selbst — als objektive Handlung und Rede — Teil des repräsentierten Geschehens ist.
Oft genug aber ist in der Tradition des bürgerlichen Schauspiels diese Relation genau umgekehrt zu beschreiben. Dann nämlich, wenn die Handlung — das objektive Geschehen — lediglich das Medium darstellt, in welchem die psychische Realität der Figuren sichtbar werden kann. Das äußere Geschehen wird zur Folie, auf der sich eine per se unsichtbare und unsagbare innere Bewegtheit ihren Wirkungen nach abzeichnen kann: Die dargestellte Handlung wandelt sich ins Gestische, d.h. sie ist, der Psychologik bürgerlicher
Innerlichkeit folgend, als Ausdruck und Beschreibung einer inneren Bewegtheit, eines lebendigen seelischen Geschehens zu entziffern. So lässt sich die Poetik bürgerlicher Schauspielkunst, die sich in den Variationen psychologischen Schauspiels bis heute erhält, resümieren. Das Sichtbar-Werden unsichtbarer und unsagbarer Empfindungskräfte ist das zentrale Schauereignis dieses Spiels.
Auch im Hollywoodfilm wird man diese Variante weitaus häufiger antreffen, als es der geläufige Begriff vom klassischen Erzählkino nahelegt. Zahllos sind die Filme, in denen die schauspielerische Aktion primär Träger des Ausdrucks eines psychischen Geschehens statt Repräsentation einer objektiven Handlung ist.5 Der Schauwert besteht in der Illusion sichtbar hervortretender seelischer Kräfte; durch den Handlungszusammenhang werden diese psychologisch definiert und so dem Zuschauer als ein inneres Geschehen verständlich. Formelhaft beschreibt dies den melodramatischen Kern des klassischen Erzählkinos.
Fassbinders Umformung: Serien und Embleme
In Fassbinders frühen Filmen wird nun dieser Darstellungsmodus zum Ausgangspunkt einer weiteren Umformung. Die schauspielerische Aktion, um den Kontext eines organischen Handlungszusammenhangs und damit um die individualpsychologische Evidenz verkürzt, formuliert das gestisch-mimische Spiel skizzenhafter Figuren- und Verhaltensfragmente. Diese lassen sich weder zu einer handlungsdramaturgischen Verweisstruktur noch zur psychologischen Ausdruckslogik von innerer Bewegung und äußerem Effekt verbinden. Die gestische Stilisierung der äußeren Handlung eröffnet keinen Zugang zur psychischen Binnenlogik der Figuren, sondern isoliert und präpariert Verhaltensweisen. Herausgelöst aus der Binnenperspektive handelnder Akteure, jenseits der Illusion lebendiger Interaktion, verlieren sie ihren Charakter als Ausdruck lebendiger Gefühlskräfte. Zurück bleibt das Zeichenmaterial einer gestischen Rhetorik der Empfindungen.
An dem Film KATZELMACHER (BRD 1969) lässt sich diese Strategie schon an der dramatischen Vorlage, dem Stück Fassbinders, beschreiben. Die Dialoge und szenischen Konstellationen sind nicht durch das Gerüst eines wie immer fragmentierten Handlungsverlaufs strukturiert, sondern ordnen gestisches Material in Alternationsreihen an, verteilt nach abstrakten Kategorien wie etwa Liebeshandel und Liebesabhängigkeit oder Gruppensymmetrie und Gruppenasymmetrie. Auf diese Weise skizzieren sie bestimmte Affekttypen und konstruieren ein charakterologisches Register: die Neidische, die Geizige, der Rücksichtslose, der Opportunist, die Traumverlorene, die Kalkulierende, die Selbstverliebte — so könnte man die Grundelemente benennen, die in wechselnden Konstellationen zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zwar ließe sich auch von einem dramatischen Konflikt sprechen, der aber stellte nur eine weitere Alternation in der
Abfolge sozialer Tableaux dar. So bildet etwa das thematische Motiv des ausgeschlossenen Fremden lediglich eine Variation in der Reihung der Figurationen; an die Stelle einer Handlungsdramaturgie tritt die abstrakte Serie, an die Stelle von empfindenden Figuren emblematische Gesten der Empfindung. Auf eigentümliche Art scheinen sich diese Bilder wieder den Charaktermasken zu nähern, die das Rollenspiel des europäischen Theaters bis weit in das 18. Jahrhundert hinein beherrschten, bevor sie durch das empfindungsvolle Spiel des bürgerlichen Schauspielers ersetzt wurden. Auch die grundlegende Referenz der schauspielerischen Darstellung lässt sich bereits der dramatischen Vorlage entnehmen. Der Dialog richtet sich am Alltäglichsten, am banalen Reden und Gebaren der Leute aus — ganz im Sinne einer lakonischen Feststellung Brechts zur ‘neuen Schauspielkunst’: "Wir behandeln die Gestik, die im täglichen Leben vorkommt und im Schauspiel ihre Ausformung erfährt (nicht Pantomime)."6
In dieser Perspektive erscheinen Fassbinders frühe Filme tatsächlich wie Studien zum "sozialen Gestus" im filmischen Medium. An ihnen zeigt sich eine veränderte Relation zwischen Acting und Dargestelltem, die an die Stelle des abbildlich-mimetischen Verhältnisses zwischen Schauspieler und fiktionaler Figur getreten ist. Diese veränderte Referenzialität der schauspielerischen Darstellung steht bei Brecht im Mittelpunkt seiner Überlegungen zum sozialen Gestus.
Von diesen Überlegungen ausgehend, möchte ich in einigen Anmerkungen den Begriff des sozialen Gestus rekapitulieren, um im Weiteren — im Wesentlichen am Beispiel des Films KATZELMACHER — danach zu fragen, ob und auf welche Weise in den Arbeiten Fassbinders Brechts Konzept des gestischen Spiels eine Dimension der kinematografischen Darstellung erschließt.