6.2 Perspektivische Verfielfältigung
Immer wieder wird Manuela bei dieser Reise innehalten, weinen, zu jenem Bewusstseinssturz zurückkehren, den der Film in den ersten zehn Minuten in Szene setzt: dem Schrei einer Mutter, vor deren Augen der Sohn überfahren wird. Ein Schrei, ein Schmerz, der jedes Mal wieder wach wird, wenn Manuela ausspricht, was geschehen ist – freiwillig oder weil man sie auffordert zu sprechen. Dieser Schrei, ihr Weinen, ihr schmerzklagendes Gesicht ist das Gegenteil des plakatierten Starporträts, das Gegenteil des kunstvoll stilisierten Schreis Pepis in PEPI, LUCI, BOM Y OTRAS CHICAS DEL MONTÓN oder der Schreie des "lustigen Schreiwettbewerbs" aus LA FLOR DE MI SECRETO. Der Ausdruck des Schmerzes basiert auf einer Darstellungsweise, von der man meint, sie in keinem Film Almodóvars zuvor gesehen zu haben. Es scheint, als kehre mit dieser Schauspielerin die Illusion der Innerlichkeit in die Filme Almodóvars zurück. Tatsächlich bringt Cecilia Roth den
Schmerz auf eine Weise zum Ausdruck, die ganz auf die Logik des psychologischen Realismus abhebt.
Und doch ist auch Manuela keine Figur, die uns in das psychologische Universum sentimentalen Bewusstseins zurückführt. Auch TODO SOBRE MI MADRE entfaltet keineswegs die Binnenperspektive des leidenden Subjekts: Ist doch der Schmerz immer schon ein erinnerter Schmerz und die Geste des Leidens immer schon die Nachahmung einer Geste, der Schrei immer schon ein Nachhall, unendlich getrennt vom erleidenden Körper.
Das Prinzip dieser Darstellung wird deutlich, wenn man sich die Unglücksszene genauer vor Augen führt: der Tod des Sohnes, der Schrei der Mutter. Dieser Schrei wird in seiner Ausdrucksdimension keineswegs vom Spiel der Schauspielerin
TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999 (10. bis 12. Minute)
getragen. Er ist – nicht anders als in LA FLOR DE MI SECRETO – abgetrennt von dem Körper, dem er zugeordnet wird. Ist es doch die Perspektive des Sohnes, sein Stürzen, sein Fallen, der Augenblick seines Sterbens, die der Film in diesem Moment einnimmt oder doch einzunehmen suggeriert.
Das Bild der Mutter ist ein diffuses Gesicht hinter dichten Regenschleiern. Dessen räumliche Perspektivierung geht in der Dynamik einer sich drehenden, wendenden und stürzenden Kamera buchstäblich unter. Als würde sich die Erschütterung des dargestellten Unfalls wie ein zeitlicher Riss in die Bildstruktur hinein fortsetzen, ist der Schrei ein wenig abgerückt von dem Gesicht; eine irritierende Asynchronität, die das Bild der Mutter zerteilt, in eine wahrgenommene Stimme und ein diffus wahrgenommenes Gesicht.
Diese Impression bildet den Gegenpol zu dem Plakat, dem Porträt des Stars. Nähert sich doch das Gesicht in der dynamischen Verkehrung der räumlichen Koordinaten einer Figuration gestaltloser Ausdrucksintensität an, während das Plakat den Ausdruck in der statisch-zeichenhaften Charaktermaske fixiert. Die Sterbeszene des Sohnes beschreibt eine buchstäbliche Spaltung des Bildes der Mutter, eine Teilung und Vervielfältigung der Perspektiven, die sie als ein Bild konstituieren, das zwischen den Polen des Starporträts
und der Ausdrucksimpression oszilliert.
Doch stellt bereits diese Unfallszene eine Wiederholung, eine erste Spiegelung oder Teilung dar, die gleichsam als Multiplikationsfaktor funktioniert. Der Film beginnt nämlich damit, dass Manuela als Krankenschwester den Tod eines Patienten feststellt und die Nachricht an ein Transplantationszentrum weiterleitet. Erst dann sehen wir Mutter und Sohn zu Hause vor dem Fernseher. Wenig später sehen wir Manuela, wie sie
TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999 (6. bis 8. Minute)
während eines Trainingsseminars für Ärzte eine Ehefrau und Mutter spielt, der man den Tod ihres Mannes berichtet. Und während Manuela als Filmfigur ebenso eindrucksvoll wie die tatsächliche Schauspielerin eine Frau darstellt, die vom Tod ihres Mannes erfährt, versuchen die Ärzte das Rollenspiel zu nutzen, um Gesprächstechniken für den Ernstfall einzuüben. Zwischen den Seminarteilnehmern, die über Videomonitore die Szene verfolgen, sitzt Esteban, der Sohn, der sich von seiner Mutter den Tod des Vaters vorspielen lässt. Tatsächlich hat Manuela diesen Tod lange vorher für ihren Sohn erfunden, um seinen Fragen nach dem Vater zu entgehen.
Noch das Rollenspiel zwischen Manuela und den Ärzten ist nichts anderes als eine nüchterne Variante der melodramatischen Urszene;9 Manuela spielt – wie zahllose melodramatischen Heroinen vor ihr – eine Frau im Moment der größten Verlassenheit, den Sturz aus der Illusion der Liebe, den Schock des Bewusstseins der Sterblichkeit: Und sie spielt es für ihren Sohn.
Esteban sieht seiner Mutter zu, wie sie das Leiden spielt, das er
als das vergangene Leben seiner Eltern vermutet. Darin verhält er sich eher wie ein Regisseur zu seiner Schauspielerin als wie ein Romancier zu seiner Figur. Als solcher freilich wird er eingeführt: ein obsessiver Schriftsteller, der alles über seine Mutter aufschreiben will. Der beobachtende Blick des Sohnes ist als Projektion dargestellt, welche die wahrgenommene Frau und die Mutterimago buchstäblich auf einer Bildfläche zusammenführt: das Gesicht des Bühnenstars, die Front des Theaters und, klein im Vordergrund, die Mutter.
Bildreihe aus TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999
Der Blick des Sohnes führt die wahrgenommene Frau und die Mutterimago buchstäblich auf einer Bildfläche zusammen
Folgerichtig ist es sein Tod, an dem diese Einheit sich aufspaltet, um sich fortan immer weiter zu teilen, zu wiederholen und umzustülpen. Es ist sein Blick, der das Bild der Mutter als Spiegelung zwischen Huma und Manuela, Stella und Blanche, Bette Davis und Gena Rowlands schreibend und mitschreibend entwirft, filmt, inszeniert. Der tote Sohn, das ist der Blick des Autors und Regisseurs, der in der Unfallszene buchstäblich in ein sich selbst permanent vervielfältigendes Perspektivenspiel sich gegenseitig in den Blick nehmender Positionen des Sprechens und Vorführens aufgesprengt wird (hier Tennessee Williams, dort García Lorca, hier John Cassavetes, dort Joseph Mankiewicz).
So entsteht bereits in den ersten zehn Minuten des Films das Bild der Mutter aus einer mehrfachen Teilung und Verdopplung der Perspektive: die Wiederholung der Todesszene – einmal als Rollenspiel der Figur, einmal als Schauspiel der Filmschauspielerin Cecilia Roth; die Verdopplung des Bildes der Mutter in der Figur Manuela und dem Bild des Bühnenstars;
die Spiegelung dieser Doppelfigur in zwei Hollywoodstars und deren Figuren: Gena Rowlands in OPENING NIGHT und Bette Davis in ALL ABOUT EVE. Schließlich die Spiegelung der gesamten Figurenkonstellation des Films in der Perspektive zweier Theaterstücke.
Zwei Theaterstücke, die von den Leiden der Frauen handeln, zwei Filme, die von den Schauspielerinnen handeln, die diese Leidensfiguren spielen, und zwei Hollywoodstars, die in sich beides vereinen: Das sind die Eckpunkte eines Systems der spiegelgleichen Umkehrung, Teilung, Verdopplung der Perspektive. Allen gemeinsam ist die Idee des Schauspiels der leidenden Frau, eine Imago des weiblichen Schmerzes, die Pathosformel des Frauseins. Wenn Huma im letzten Teil des Films die Mutter aus García Lorcas "Bluthochzeit" einübt, scheinen sich alle Fäden in ihrem Bild zu verbinden. Sie gibt der Mutter die definitive Gestalt, eine Pietà, in der noch der tote Sohn nur ein Bild für die Schmerzen der Frauen ist. Sie kniet auf dem Boden
TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999 (87. bis 89. Minute)
der Probebühne vor einem Bottich und mimt Wäschewaschen. Im Hintergrund tritt ein junger Mann hinzu, ein Regisseur, der ihr Sohn sein könnte. Er beugt sich über sie, formt ihre Gesten, spricht suggestiv auf sie ein. Der Film entwirft seine perspektivische Anordnung mit Blick auf die Position solcher Söhne: Was würde sich von der Mutter zeigen, wenn ich sie sehen könnte, wie sie war, bevor ich da war, und wie sie sein wird, nachdem ich nicht mehr da bin?