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03 Die "getreue Rekonstruktion eines menschlichen Dramas" – Politik in der Binnenperspektive des individuellen Gefühls


Eine poetische Logik des Historienfilms





Im Folgenden soll versucht werden, eine filmanalytische Perspektive auf Viscontis Historienfilme zu entwickeln. Im Mittelpunkt werden dabei die Filme SENSO und LA CADUTA DEGLI DEI stehen. Sowohl der Titel des erstgenannten Films, SENSO, als auch dessen Schluss, die Hinrichtung Leutnant Mahlers (Farley Granger), sind Visconti nach eigenem Bekunden aufgezwungen worden. Er wollte kein Liebesmelodrama, sondern einen Film, der "Custozza" heißen und im Bild der schweren Niederlage während des italienischen Befreiungskriegs ein Verhältnis zu den verpassten Möglichkeiten der Geschichte Europas eröffnen sollte. In Viscontis Version gelten die letzten Tränen des Films, gilt das Pathos der verpassten Chance dieser anderen Geschichte.


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SENSO, Luchino Visconti, I 1945 (1. bis 5. Minute)

SENSO beginnt mit einer berühmten Opernszene aus Verdis "Il Trovatore". Für die ersten zwei Minuten sehen wir die Sänger auf der Bühne so, als würde der Bühnenraum tatsächlich den Handlungsraum des Films bezeichnen. Wenn der Vorspann mit den Namen Alida Valli und Farley Granger über die Bühnenszene eingeblendet wird, bezieht man die Namen zunächst auf die Opernfiguren und erwartet tatsächlich ein "Melodramma" in Verdischer Manier, erwartet die große Ausstattung und das hohe Pathos einer ganz und gar artifiziellen Darstellungsform. Und doch lässt sich an der berühmten Anfangssequenz von SENSO eine räumliche Figuration, eine Konstruktionsweise des kinematografischen Bildraums begreifen, an der sich die poetische Logik des Historienfilms bei Visconti aufzeigen lässt.



In der ersten Einstellung wird mit der Bühne die klassische Form eines repräsentierenden Raums eingeführt; ein Raum, der alles, was er in sich einschließt, zur symbolischen Realität erhebt. Durch die geschlossene Bildkomposition der frontalen Kadrierung des Bühnenraums ist dieser Raum identisch mit dem der filmischen Einstellung. Erst mit dem Schwenk auf das Publikum wird dieser Raum als Bühne identifizierbar. Während hier die perspektivische Tiefe durch die Bauten betont ist,

erscheint der Zuschauerraum, die aufmerksame Menschenmenge, eingelassen in den Dekor, als ein eher flächiges Bild. Die schwenkende Kamera verwischt die geometrische Perspektivierung und die Tiefe des architektonischen Raumes. Es entsteht eine in sich fließende Impression schauender, zuhörender Menschen, eingefasst und gegliedert von den ornamentalen Rahmungen und Aufteilungen des historischen Dekors.


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Einstellungsvergleich zwischen Bühne und Zuschauerraum

Einerseits haben wir ein Bild, in dem das Prinzip des Volkes als eine Versammlung der Hörenden und Zuschauenden sich dargestellt findet; andererseits wird dieses Bild über die Blickachsen mit seinem Off, dem Bühnenraum dergestalt verbunden, dass ein drittes entsteht, ein klar definierter Handlungsraum; die Impression der versammelten Menschen und das Bild der Bühnenhandlung erweisen sich als Teil der

diegetischen Welt des Films: eine historische Aufführung der Verdi-Oper "Il Trovatore" in La Fenice, dem berühmten Opernhaus Venedigs im Jahr 1866. Bis zu dem sich öffnenden, schweifenden Blick der Kamera über die voll besetzten Logen, die aufmerksamen Gesichter hat es diesen Handlungsraum nicht gegeben.


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Stills aus SENSO, Luchino Visconti, I 1945
 


Die Teilung des kinematografischen Bildraums




Bei genauerer Analyse des Prologs, der knapp fünfzehn Minuten dauert, zeigt sich, dass die räumliche Spiegelungskonstruktion zwischen Opern- und Filmhandlung ein höchst komplexes Gefüge darstellt, das auf der Ebene der Musik und des Gesangs unauflösbar miteinander verschränkt ist. Den Ausgang bildet die Teilung des kinematografischen Bildraums in zwei verschiedene Dimensionen, die einen grundlegend anderen Realitätsstatus haben. Aus dieser ersten Teilung des Bildes – Zuschauerimpression und dargestelltes Bühnengeschehen – entwickelt Visconti das Grundprinzip der Raumbildung des Films. Es besteht im Wesentlichen aus Spiegelungen, die in den einzelnen Details intensiv verschränkt werden, so dass sie sich in immer neuen Brechungen auffalten. 


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Stills aus SENSO, Luchino Visconti, I 1945

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Stills aus SENSO, Luchino Visconti, I 1945

  Wenn die Kamera, während Manricos Cabaletta, dem Filmzuschauer zum ersten Mal die ‘andere Seite’ der Bühne, den Zuschauerraum der Oper zeigt, geschieht dies aus der Sicht des Proszeniums. Es entsteht der Eindruck, als wende sich der Sänger an das Publikum in den Rängen, als fordere er es auf, mit dem ‘Blut der Österreicher das Feuer in seinem Inneren zu löschen’. Wenn im Moment seines hohen C die Kamera mit einer Einstellung aus der Sicht des Olymps antwortet, rücken Manricos Mannen auf die Bühne und fordern zum Kampf auf. Im Gegenzug sieht man, wie die Freiheitskämpfer ihren revolutionären Coup vorbereiten.

Die Spiegelung zwischen Kunst und gesellschaftlicher Realität





Die Teilung Bühnenraum/Leinwandbild, Opernsänger/Opernhörer ist als Spiegelung zwischen der Oper Verdis und einem fiktiven politischen Ereignis während der Verdi-Zeit in Szene gesetzt. Diese Spiegelung selbst, die Spiegelung zwischen Kunst und gesellschaftlicher Realität, ist das Thema des Films. Jedenfalls beschreibt der Bildraum des Films weit mehr als nur den Ort einer fiktiven historischen Handlung.

Während der ersten Minuten des Vorspanns hörten wir das Duett "L’onda de’ suoni mistici" ("Die Klänge himmlischer Musik"). Leonora und Manrico besingen ihre Liebe. Abrupt unterbricht der Auftritt eines Gefolgsmanns von Manrico die Harmonie. Der Feind habe einen Scheiterhaufen für eine Zigeunerin errichtet. Durch ein Fenster im hinteren Bühnendekor sieht man rot flackerndes Licht. Mit exaltiert theatralischem Aufschrei bekennt Manrico, dass die Zigeunerin seine Mutter sei. Ein Text wird über die Szene geblendet, der über die politische Lage Italiens zur Zeit der Filmhandlung informiert.


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Stills aus SENSO, Luchino Visconti, I 1945






Manrico tritt zur Vorderbühne, zieht sein Schwert, hält es hoch und schmettert die Cabaletta: "Ich war schon ihr Sohn, bevor ich dich liebte, deine Qual kann mich nicht zurückhalten. O unglückliche Mutter, ich eile, dich zu retten oder wenigstens mit dir zu sterben." Mit den aus Rängen herabfallenden farbigen Flugblättern springt das Gefühl der Unruhe und Bedrohung buchstäblich auf die andere Seite über: Der Affekt wechselt die Gestalt, aus dem Gesang wird eine politische Aktion. Was zuvor, im Arrangement eines flächigen Leinwandbildes, die Impression einer sich sammelnden und versammelnden Gesellschaft war, wird jetzt zum Handlungsraum im emphatischen Sinne. Verwandelt sich doch der Gesang im Zuschauerraum in eine politische Aktion.


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Stills aus SENSO, Luchino Visconti, I 1945
 













An die Stelle der Impression eines passiven Publikums ist die Aktion des sich artikulierenden Volkes getreten: "Viva l’Italia, viva Verdi." Diese Aktion durchschlägt die kruden Verstrickungen des Bühnengeschehens und erhellt sie mit einem Schlag durch eine kristallklare Deutung: "Viva l’Italia, o unglückliche Mutter, ich eile, dich zu retten oder wenigstens mit dir zu sterben."

In der Spiegelkonstruktion des Films entsteht eine Figuration, die nicht mehr auf der Ebene der Handlung, die nicht mehr als Handlungsraum zu fassen ist. Denn die Antwort des Publikums ist nicht einfach ein fiktives historischen Geschehen, das sich in der Operhandlung gespiegelt findet; sie wird in dieser Spiegelung selbst symbolische Form, zu einem Coup de Théâtre, einem hochartifiziellen Bild des Freiheitsbestrebens. Umgekehrt tritt in dieser Spiegelung die Oper Verdis als ein reales Objekt hervor: als ein Artefakt, in dem sich das ‘Bestreben freier Menschen’, von dem die fiktive Szene erzählt, historisch real vergegenständlicht hat. In den wechselseitigen Spiegelungen ist die räumliche Figuration insgesamt zum kinematografischen Bild eines Freiheitsgefühls geworden, das in Verdis Oper als Artefakt, als historisches Objekt, geschichtliches Ding verkörpert ist.


Das Gefühl einer vergangenen Zeit











Die Möglichkeit des filmischen "Erinnerungsbildes"12 gründet bei Visconti also keineswegs auf der Illusion des (imitierenden, kostümierenden) Dekors, gleichviel ob es sich um die pompös plakative Bühnendekoration oder um das differenzierte, detailgenaue Art-Design handelt, mit der eine historische Opernvorführung des Jahres 1866 in La Fenice beschrieben wird. Die filmische Inszenierung präpariert vielmehr die Oper selbst als ein im Kunstobjekt verkörpertes, materiell gewordenes, vergangenes Gefühl heraus. Die Inszenierung der ästhetischen Qualitäten der materiellen Dinge als einer Transformation der historischen Realität eines vergangenen gesellschaftlichen Lebens bezeichnet das grundlegende Axiom der Poetik des Historienfilms bei Visconti. Die Caballeta wird als ein in Form von Musik vorliegendes "Gefühl" einer vergangenen Zeit für den gegenwärtigen Kinozuschauer in Szene gesetzt. Vom Verrat an diesem Gefühl handelt dann die leidenschaftliche Affäre der Gräfin Livia Serpieri zu dem österreichischen Leutnant Mahler. Auch diese Spiegelung geht unmittelbar aus der beschriebenen räumlichen Figuration hervor.

Der zweite Teil der Sequenz spielt in den Logen des venezianischen Adels und der österreichischen Generalität. Die Gräfin, Livia Serpieri, bittet darum, Leutnant Mahler kennenzulernen. Sie will ihren Cousin Ussoni (Massimo Girotti) schützen, der sich während des Tumults mit dem österreichischen Offizier angelegt hat.


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SENSO, Luchino Visconti, I 1945 (9. bis 11. Minute)

Livia stellt sich vor einen Spiegel (an zwei der drei Wände der Loge befinden sich Spiegel), legt ihr Tuch ab, zupft ihr Haar, öffnet ein wenig ihren Ausschnitt. Im Spiegel ist der hinter ihr aufgehende Vorhang zu sehen. Bühne und Loge sind zu einer räumlichen Figuration verbunden. Ihr Kommentar, mit dem sie ihr Desinteresse am gerade beginnenden vierten Akt der Oper bekundet, eröffnet das Filmmelodrama als weibliche Intrige zur Rettung des italienischen Freiheitskämpfers: "‘Der Troubadour’ ist mir durchaus bekannt. Und außerdem, die Österreicher lieben die Musik, während wir Italiener aus ganz anderen Gründen das Theater besuchen, nicht wahr?"




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SENSO, Luchino Visconti, I 1945 (11. bis 12. Minute)

Ein Schnitt, eine Totale zeigt das Bühnenbild des vierten Akts. Leonora steht auf einem Treppenabsatz vor einer düsteren Festung. Ruiz tritt auf, verkündet, dass Manrico in den Kerkern der Festung gefangen gehalten wird. Leonoras Gesang erzählt von dem Entschluss, Manrico befreien zu wollen. Ein erneuter Schnitt verbindet diesen Gesang mit dem Auftritt Franz Mahlers in der Loge. Eine Nahaufnahme zeigt ihn im Türrahmen: das Bild eines Schönlings. Einen kurzen Moment lang folgt die Kamera ihm, hält aber am gerahmten Spiegel inne, den Mahler zügig passiert, um gleich darauf neben Livia im Spiegelbild zu erscheinen. Beide sind nun von hinten im Spiegel zu sehen: Zwischen ihnen sehen wir die Leonora auf der Bühne, so als sei ihr Gesang und ihre Erscheinung selbst wiederum eine Reflexion der dem Filmzuschauer abgewandten Gesichter.


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SENSO, Luchino Visconti, I 1945 (12. bis 15. Minute)

Von vornherein löst die Kamera den Raum in eine Folge von gerahmten und gespiegelten Bildern auf, in der das Geschehen auf der Bühne und Loge in vielfältigen Brechungen und Reflexen ineinander verschränkt wird.

Ein Umschnitt zeigt das Paar von vorne in der Loge, Leonoras Gesang kommentiert ihr Gespräch.











Eine dritte Perspektive rückt beide dergestalt ins Bild, dass man ihre Gesichter und zugleich im Hintergrund die Sängerin sieht, so als sei nun die Loge zu einem Teil der Bühne geworden. Als Livia langsam begreift, dass der österreichische Offizier sich keinesfalls mit ihrem Vetter duellieren, dass er vielmehr für dessen Verhaftung sorgen wird, sieht man noch einmal eine Totale der Bühne: Leonora, in Untersicht, beschwört die Erinnerungen. Und während die Sängerin den Boten ermahnt ("doch ach, erzähle ihm nicht von den Qualen meines Herzens"), sieht man, wie Livia unruhig wird, den zuvor freigelegten Ausschnitt mir ihrem Schleier verdeckt und sich zum Gehen anschickt. Es ist, als singe Leonora von den kommenden Qualen der Gräfin Serpieri, hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu dem österreichischen Leutnant und der Treue zu ihrem Cousin, dem italienischen Freiheitskämpfer. Sie will, sie muss ihn retten – so wie Leonora ihren geliebten Manrico und Manrico seine ausgestoßene Mutter und das Opernpublikum sein geschundenes Italien: "Ich eile, dich zu retten oder wenigstens mit dir zu sterben."


Still aus SENSO, Luchino Visconti, I 1945
Still aus SENSO, Luchino Visconti, I 1945

Die letzte Einstellung von La Fenice zeigt die Loge, die in ihrer Umrahmung nun vollends zur Bühne geworden ist: In der Tür im Hintergrund steht Livia, eingefasst vom Türrahmen; sie steht mit dem Rücken zur Kamera, wartet kurz, geht aus dem Bild. Dem Verdi-Thema antwortet dann im folgenden Filmmelodrama eine Darstellung Venedigs, die sich wie eine visuelle Inszenierung einiger Passagen der siebenten Sinfonie des österreichischen Komponisten Bruckners ansehen.



Literaturangaben und Anmerkungen
12 Ich lehne mich mit diesem Begriff an die Ausführungen von Deleuze zu Bergson und zum Kristallbild an. Deleuze: Das Zeit-Bild, S. 64ff. [^]

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