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1.1 Schauspielkunst und Selbstdarstellung

Über Deutschland:
 Kommentar 1 - Beziehungsalltag und eheliche Gemeinschaft


Zu sehen ist eine Selbstdarstellung, die sich als Schauspiel präsentiert: Man darf also annehmen, dass nicht nur die Namen und die Wohnung, sondern auch die "Handlung", die Verhaltensweisen des Protagonisten, dem realen Leben des Rainer Werner Fassbinder entliehen sind. Jedenfalls sucht der Film eben dieses zu suggerieren. Und zwar mit der gleichen Emphase, mit der er den Spielcharakter der dargestellten Handlung unterstreicht. Wir haben es also weder mit einer Dokumentation aus dem wirklichen Leben des Rainer Werner Fassbinder noch mit Fiktion zu tun. Man könnte vielleicht von einem demonstrativen Akt im Sinne der Brechtschen

Straßenszene sprechen: Fassbinder spielt, indem er als Schauspieler vorführt, wie’s bei ihm Zuhause zugeht, die Antworten auf die eingangs gestellten Fragen durch. Was ist staatliche Unterdrückung, was institutionalisierte Gewalt? Es sind Szenen aus dem Beziehungsalltag, in denen die eheliche Gemeinschaft als der kleinste gemeinsame Nenner dargestellt wird, auf den sich das Verhältnis von Individualität und Gesellschaft bringen lässt: ein Gesellschaftsvertrag, der die unmittelbarsten Äußerungsformen individueller Triebwesen an die Organisationsformen staatlicher Gewalt anschließt. 


Über Deutschland:
 Kommentar II - Politik als konkretes Erleben am eigenen Leib


Eine zweite Kommentarebene des Films wird durch ein Interview mit der Mutter eingezogen: Fassbinder diskutiert mit ihr über Demokratie, Zivilcourage, Obrigkeitshörigkeit und Denunziantentum. Auch dieses Gespräch unterliegt einer

strengen inszenatorischen Bearbeitung. Denn während der Film alternierend zwischen Gesprächspassagen und Eheszenen wechselt, verändert sich sukzessive die Anordnung und mit ihr der Charakter des Gesprächs. 


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DEUTSCHLAND IM HERBST. Beitrag Rainer Werner Fassbinder, D 1978
 (5. bis 25. Minute)





Sieht man zu Beginn eine konventionelle Interviewszene, entsteht mit jeder Rückkehr in diese Szene eine andere Situation. Waren am Anfang die Rollen klar definiert – eine Großaufnahme, die Mutter spricht, während Fassbinder, meist aus dem Off, Fragen stellt –, rückt mehr und mehr Fassbinder selbst ins Bild. Die Diskussion wird zunehmend hitziger und gleicht am Ende einem Streit am Familientisch: Lauthals und aggressiv macht Fassbinder seine Mutter nieder.

 

  


Was in der dramaturgischen Anordnung hervorgekehrt wird, ist aber nicht die zweifelhafte Position der Mutter. Im Gegenteil, dass sie Zweifel hat und dass sie Zweifel äußert, ist das einzige Moment, das über das reine Machtspiel hinausweist. Außer sich vor soviel Borniertheit bricht der kritische Sohn den Stab über den Wünschen der Mutter, die nach einem guten Vater als idealem Regenten verlangt und damit doch nur den affektiven Grund jeglicher Form von Vergesellschaftung benennt. Was im Changieren zwischen Meinungsstreit und Familienkrach sichtbar wird, ist die Gewalt, die Überwältigung der Mutter durch den Sohn. Bar jeden Selbstzweifels brüllt er ihr die korrekten politischen Argumente entgegen. Überwältigend ist nicht das bessere Argument, sondern Fassbinders zunehmende physische Präsenz, die Lautstärke; sie lässt die Mutter und mit ihr die Erfahrung der faschistischen Diktatur verstummen. 
Mit dieser Szene scheint die grundlegende Figuration der

politischen Konstellation der BRD nachgestellt: die Konfrontation zwischen der Elterngeneration, die aus der faschistischen Gesellschaft kam und sich der moralischen Anklage der Jungen gegenübersah. So betrachtet lässt sich Fassbinders Film als eine kinematografische Selbstanalyse der Reaktionen der linken Öffentlichkeit auf den Deutschen Herbst verstehen. Er nimmt diese Öffentlichkeit freilich nicht von ihrer repräsentativen Seite. Vielmehr fragt er nach dem "Wir" oder dem "Ich", das sich als Teil dieser Öffentlichkeit versteht – oder sich doch zumindest auf diese in seinen Meinungen und Phantasien bezieht. Der Film versucht Politik also dort zu greifen, wo sie sich in konkreten sozialen Beziehungen realisiert, als Familiensache und Beziehungskiste. Die familiären Konstellationen wollen keineswegs eine Parabel der Gesellschaft inszenieren. Nachgestellt ist vielmehr Szene für Szene das In-Gesellschaft-Sein als ein konkretes Erleben, das man am eigenen Leibe auszutragen hat. 



Über Deutschland:
 Kommentar III - Das Soziale als individueller physischer Zustand



Eine dritte Ebene des Films artikuliert sich in den wiederkehrenden Telefonaten. Sie bilden eine Art realistisch installierten inneren Monolog und formulieren in dramatischer Steigerung Zustandsberichte von der psychischen Verfassung des Autors: die paranoiden Phantasien des Sich-Verfolgt-Wähnenden, die Schlaflosigkeit des Verängstigten, die Arbeitsstörungen des Workaholics, die Entzugserscheinungen des Drogensüchtigen. Durchmischt mit Informationen zu den laufenden Arbeitsprojekten, mit Nachrichten zum Verlauf der Entführung und dem Tod der in Stammheim einsitzenden RAF-Gründer, artikulieren diese Monologe die wachsende Panikstimmung. 

Fassbinder verknüpft sie mit dem Thema des Drogenkonsums. Die Angst vor dem übermächtigen Staat und die paranoiden Verhaltensweisen des Drogensüchtigen beschreiben ein und dieselbe Lage, ein und denselben physischen Zustand. Wenn Fassbinder wie ein verängstigter Junge an seinem Penis spielt, während er telefoniert, wenn er die gerade erstandene Lieferung Kokain panisch ins Klo schmeißt, weil er Polizeisirenen hört, wenn er sich unvermittelt übergeben muss, artikuliert sich ein höchst kalkuliertes Bild dieses Zustands. Zu sehen ist ein physisch reales In-Beziehung-Sein und Sich-in-Beziehungen-Verhalten; inszeniert ist ein Bild des Sozialen als individueller physischer Zustand.  


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