4.4 Eine Choreografie der Beziehungsmuster
(6 Stills aus WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder,
BRD 1971)
Das Außen als Ansichtskartenidylle
Wie Intermezzi sind in die Innenansichten des Hotels Außenaufnahmen eingeschaltet:
kleine Szenen auf dem Set mediterran anmutender Hotelterrassen, Gärten und
Meeresblicke. Diese Ansichtskartenidyllen konstituieren ein Außen, das unspezifisch
auf die Stereotypen der Urlaubswerbung verweist.
(5 Stills aus WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder,
BRD 1971)
Der Fensterdurchblick als gerahmtes Landschaftsbild
Auch die Fensterdurchblicke erscheinen so gesehen als gerahmte Landschaftsbilder,
die wie überdimensionierte Fototapeten den Hintergrund des Bildraumes gliedern.
(Stills aus WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder,
BRD 1971)
Zwischen den Fenstern hängt Kitschmalerei, wie man sie in den Kaufhäusern der
siebziger Jahre fand – weinende Jungen, spielende Mädchen und monumentale
Tiergemälde.
(Stills aus WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder,
BRD 1971)
Auf der den Fenstern entgegengesetzten Seite ist wie ein Altar eine nicht weniger
kitschige Heiligenstatur aufgebaut.
(Stills aus WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder,
BRD 1971)
In der kreisenden Bewegung der Kamera erscheint dieser Raum wie eine Kathedrale,
gegliedert durch eine Folge von Seitenkappellen. Dieser Eindruck wird noch verstärkt
durch die zahlreichen Säulen.
Die Bühne der Figuren
So stellt sich schließlich die Hotellounge als ein vielfältig gegliedertes Rund dar, das von Bildern und Statuen umstellt ist wie eine Arena von den Zuschauern. Dieser Raum mag Mal um Mal andere semantische Zuschreibungen erfahren, je nachdem welche Aktion in der Mitte des Kreises zur Darstellung kommt. Aber egal, ob man einen Kampf- oder Opferplatz assoziiert, es ist immer ein Schauplatz, eine Bühne, auf der die Schauspieler versuchen, sich selbst als die Figuren dieses Films zur Darstellung zu bringen.
Thomas Elsaesser hat darauf hingewiesen, dass die Figuren Fassbinders häufig durch den Antrieb bestimmt sind, gesehen werden zu wollen; so als hätten sie das Außerhalb des Sichtfeldes zu fürchten, drängen sie auf die Bühne der Selbstdarstellung:Ihre Wünsche werden nicht durch Bankraub, Auftragsmord oder Überfälle, nicht einmal durch die Beschaffung von Geld oder Frauen befriedigt (obwohl all dies als Ziel offen daliegt). Sie werden von einem komplexeren Wunsch getrieben [...] dem Wunsch eine einmal übernommene Rolle "korrekt" zu spielen. Die Männer und Frauen in diesen Filmen haben eine Vorstellung von sich selbst, die ihr Verhalten und ihre Gesten bestimmt, damit sie in den Augen der anderen so erscheinen, wie sie erscheinen wollen: als Zuhälter, harte Jungs, Nutten oder femmes fatales.38
Reihum treten die Figuren in ein Wechselspiel schematisch festgelegter Rollen und Positionen ein. Mal treten sie als begehrende Liebende, mal als Objekte des Begehrens auf; mal besetzen sie die Position des ausgeschlossenen Dritten, mal setzen sie sich für den neidvollen Blick der anderen in Szene. Dies gilt für die Arbeitsbeziehungen genauso wie für die erotischen Bande: sei es, dass sich die Stars und Chefs der Truppe als solche präsentieren, sei es, dass sich das Team als ganzes für die Blicke derer in Szene setzt, die nicht dazugehören: etwa jene, die sich auf einen Job beim Film bewerben, aber nur auf ihren erotischen Mehrwert taxiert werden, oder jene, die zwar ihre sexuellen Qualitäten
anpreisen, aber gerade deshalb nur Verachtung ernten; oder das Dienstpersonal, das nicht nur Befehle entgegennimmt, sondern auch den Dreck und die Beschimpfungen ertragen muss.
In rascher Folge werden diese Positionen untereinander getauscht, ohne dass sich die Blockade auflöste, ohne dass eine Handlung aus der um sich selbst kreisenden Bespiegelung herausführte.
Jede dieser Positionen ist reihum wechselweise zu besetzen – eine aggressive Order Saschas, und Babs muss ihre Beobachterposition aufgeben, um in den Kreis der Arbeitsaktivitäten einzutreten, während sich Billi mit Ricky zu einem neuen Paar zusammenschließt. So entwickelt sich im Verlauf der Sequenz ein Wechselspiel zwischen den Positionen der erotischen Paare, der arbeitenden Gruppe, der ausgeschlossenen anderen und der überlegenen Beobachtenden, das sich zunehmend beschleunigt.
Ist das Rund der Hotelhalle einmal ausgezeichnet, gewinnen die Einstellungswechsel zwischen den einzelnen Paaren, der Gruppe am Tresen, den von der Kamera begleiteten, konterkarierten und weitergeführten Gängen schnell an Dynamik. Das barfüßige Mädchen tritt in die Mitte des Raumes und beginnt zu tanzen. Die fragmentarischen Einheiten werden kleiner, die Blick- und Bewegungsachsen der Figuren zügiger gegeneinandergesetzt: hier ein Dialog, dort ein Blick, der erwidert wird, ein Mann am Tresen, ein Mann am Telefon, ein Gang, der das eine mit dem anderen verbindet, eine neue Figur, deren Gang die Achse des vorherigen schneidet; ein weiterer Gang aus der Gegenrichtung, der erneut die Tiefe des Raumes freigibt.
Immer zügiger also werden Liebesangebote, Gesten der Erniedrigung, der Unterwerfung, der Unterordnung ausgetauscht, in immer rascherer Folge, immer dichter gedrängt fügen sich die Dialogbruchstücke und Aktionen der Annäherung, der Zurückweisung, des Triumphs in Liebe und Arbeit.
WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE. Rainer Werner Fassbinder, BRD 1971 (7. bis 16. Minute)
Das Musikstück wechselt erneut: Nichtstun, aufeinander einreden, übereinander reden, beobachten, lästern, kommentieren, schreien. Bis das Telefon klingelt – die Musik verstummt, die Gespräche enden, die dynamische Verstrebung der Blick- und Bewegungsachsen löst sich in einem visuellen Akkord auf: Alle Figuren halten gespannt inne, wenden ihre Blicke Sascha zu, der mit dem Regisseur telefoniert.
Die audiovisuelle Verschränkung aller Ebenen - die Entstehung eines optisch-akustischen Raumbilds in Bewegung
Die Bewegung der Kamera lässt eine Zeitlichkeit, eine Dauer entstehen, die in jedem Element der dargestellten Szene enthalten ist: in den Figuren, die das Sichtfeld betreten, so gut wie in der Spannung der sich schneidenden Blick- und Bewegungsachsen, in den Attacken aus Blicken und Worten so gut wie in den Musikwechseln und den Gängen der Figuren.
Jedes Element wird zu einem Teil dieses Kreisens, wird zum Element eines streng gefügten Bewegungsbildes. Diese intensive visuelle Verschränkung findet sich auf Ebene des Scores wiederholt. Sind doch die Gespräche, das Schreien und Wispern, die Geräusche, die Schritte, auf gleiche Weise in die Musikkomposition eingelassen wie die Gesten und Blicke in das Kreisen der Kamera. Die Worte, die wechselnden Lautstärken,
die unvermittelten Wechsel in der Tonart – wütend, teilnahmslos, lästernd, nachdenklich – sind auf die Musik hin gesprochen, wie die Schritte sich als Takt und Nachhall in diese einfügen und sie rhythmisch akzentuieren. In der Verfügung von akustischer und visueller Struktur entsteht ein optisch-akustisches Raumbild in Bewegung – ein sich in sich drehendes Raumbild, gebaut aus den Gesten, Worten und Blicken der Schauspieler. Dieses Bild wird mehr und mehr zu einem Tanz, dessen choreografische Logik sich dem Zuschauer nach und nach erschließt. Die Blick- und Bewegungsachsen bilden ein visuelles Taktmuster, das sich in den akustischen Raum der Musik einschreibt wie die kreisende Bewegung der Kamera, die gleichsam eine Gegenstimme zu den dynamischen Winkeln formuliert.