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6.1 Noch einmal - das Motiv der Wiederholung


Wir werden Manuela, der Mutter, folgen, wie sie dem transplantierten Herzen des Sohnes folgt, wir werden sie bei einer Reise in ihre Vergangenheit begleiten: nach Barcelona, wo sie vor siebzehn Jahren Lola (Toni Cantó) verließ, Estebans Vater, der sich als Transvestit prostituiert. Der Film inszeniert diese Rückkehr wie eine Traumsequenz, wie eine Zeitreise im Raum eines Bewusstseins.

 

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TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999 (16. bis 22. Minute)

Manuela ist gerade in ihre Wohnung zurückgekehrt, sie hat den Mann gesehen, der mit dem Herzen ihres Sohnes lebt; eine verhalten klagende Trompete, gedehnte Streicher verbinden sich mit einem inneren Monolog: die Stimme Estebans, seine Tagebucheintragungen, wie sie in den Gedanken Manuelas nachhallen mögen. Eine Freundin klingelt; es folgt ein kurzes Gespräch voller Unverständnis; Manuelas müde-verhärmtes Gesicht – sie begehrt wütend gegen die guten Ratschläge der Freundin auf. Ein neues Trompetenthema steigt hell aus dem gleichförmig sich weitenden, dunklen Klangraum empor; sehr verhalten formiert sich ein neuer Rhythmus, der sich mit den Geräuschen im Innern eines fahrenden Zuges verbindet. In einer Nahaufnahme sehen wir Manuelas Gesicht, blau-schwarz der Hintergrund des Fahrgastsessels: Erneut hören wir ihre Gedanken, ein innerer Monolog, nun mit ihrer Stimme gesprochen –


sie erinnert sich, wie sie diese Reise, in umgekehrter Richtung, schon einmal unternahm, vor siebzehn Jahren, als sie mit ihrem Sohn schwanger war. Manuelas Stimme und das Geräusch des fahrenden Zuges verbinden sich mit dem nun deutlich hervortretenden Rhythmus des Scores. Die Saxophonstimme wird von einem Gitarrenmotiv abgelöst, das ein kleines, monoton sich wiederholendes Thema nachdrücklich in den Vordergrund schiebt, bis es den ganzen Klangraum ausfüllt. Der musikalischen Miniatur antwortet eine visuelle Impression, die analog minimalistisch-abstrakt eine Tunnelfahrt imaginiert: Das vom Scheinwerferlicht erhellte Gemäuer fliegt an den Rändern des Sichtfeldes vorbei, als stürze sich der Kamerablick selbst in das tiefe Schwarz, das die Mitte des Bildes ausfüllt. Das meditativ wiederholte

Gitarrenmotiv geht in einen Bolero über, der einschmeichelnde Klang einer Mundharmonika führt vom Sturz in die Tiefe zu einem schwebenden Blick, der sich über das Lichtermeer einer Nachtansicht Barcelonas aufschwingt. Der nun einsetzende Gesang geleitet den Kamerablick in die Stadt Barcelona, als hätte diese alle Zweckgebundenheit aufgegeben, wäre nur noch da für diesen Blick. Man sieht die verwischten Konturen von Gaudis Sagrada Familia, gespiegelt in der Fensterscheibe eines Taxis: Das Fenster senkt sich, man sieht das Gesicht Manuelas, ihr Blick ist aufmerksam, prüfend, als wäre sie nicht sicher, ob die Stadt existiert. Die Kamera bleibt bei ihrem suchend-skeptischen Blick. Manuela lässt sich im Taxi zu den einschlägigen Orten der Stadt fahren; sie ist auf der Suche nach Lola, dem Vater Estebans.


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Bildreihe aus TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999

Zeitreise im Raum eines Bewusstseins: Manuelas Reise ins Barcelona ihrer Erinnerung


Unvermittelt befindet sich das Taxi in den Außenzonen zwischen Autobahnen, Unterführungen und Brachland. Der Taxifahrer fragt skeptisch, ob Manuela wirklich weiterfahren wolle. Vor den Augen der Zuschauer enthüllt sich eine Welt, die für einen kurzen Moment wie ein Märchenland erscheint: Aufreizend gekleidete Frauen flanieren Hand in Hand, wie auf einem Boulevard, hocken am Wegrand und klatschen wie Kinder in die Hände. Autos, Scheinwerfer, Motorräder bilden einen dicht gedrängten Korso, der sich wie ein Karussell

langsam im Kreis dreht; und zwischen den Autos bewegen sich weibliche Zauberwesen im Licht der Scheinwerfer und Feuerstellen. Der nächtliche Reigen erweist sich sehr schnell als Transvestitenstrich. Am Wegrand wird eine dieser Märchengestalten brutal zusammengeschlagen. Manuela lässt das Taxi halten, steigt aus, das Musikstück endet. Sie findet ihre Freundin Agrado, die ihr übel zugerichtet in die Arme fällt. Sie hat es nur der zufälligen Begegnung zu verdanken, dass sie mit einem lädierten Gesicht davon gekommen ist.


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Bildreihe aus TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER). Pedro Almodóvar, E 1999

Der Transvestitenstrich als Märchenland und Agrado als verprügeltes Zauberwesen


Die gesamte Sequenz ist als ein integrales Stück durchkomponiert, in dem die visuellen und musikalischen Themen durch kaum merkliche Übergänge noch die schroffsten Gegensätze eng miteinander verknüpfen: die ausgebrannte Leere der Trauer und die wiederkehrende Erinnerung an glückliche Jugendtage, den Sturz ins Dunkel und die schwebende Euphorie, eine hymnische Feier der Stadt Barcelona und den miesesten Straßenstrich, eine nächtliche Märchenwelt der Feen und Nymphen und das Brachland einer Halbwelt von Prostitution, Drogen und Gewaltverbrechen. Die Sequenz ist wie eine Arie, das monologische Lied einer Figur, die die ganze Spanne dieser Gegensätze in ihrem Bewusstsein, in ihrer Erinnerung, in ihrer Empfindungswelt umgreift. Manuela wird sich so entschieden und selbstgewiss durch diese Stadt bewegen wie jemand, dem noch die extraterritorialen Zonen wohlvertraut sind.
Aber nicht nur Manuela wird eine Reise zurück in ihre


Vergangenheit antreten. Vielmehr bewegt sich der Film selbst in zahllosen Reminiszenzen auf genau jener Zeitachse rückwärts, die Manuela ein ums andere Mal präzise benennt: "Vor siebzehn Jahren verließ ich den Vater, vor achtzehn Jahren war er in Paris und ließ sich Brüste implantieren, vor zwanzig Jahren spielten wir gemeinsam in einer Theatergruppe ‘A Streetcar Named Desire’, ich war die Stella, er war Kowalski." Die Zeitachse, die sie beschreibt, betrifft nicht nur die Jahre, bevor Manuela Mutter wurde; sie betrifft auch die Zeit, in der Pepi und Bom und all’ die anderen Mädchen in Almodóvars Debütfilm PEPI, LUCI, BOM Y OTRAS CHICAS DEL MONTÓN ausbrechen aus der Welt der Vaterfamilie; und sie betrifft eben auch die Zeit, in der die Hauptdarstellerin Cecilia Roth als Sexilia in den Labyrinthen der Leidenschaften aus Almodóvars zweitem Film genau jenes Figurenleben führt, das ihr dann, achtzehn, zwanzig Jahre später, als Manuela zur erinnerten Lebensgeschichte wird.


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