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4.1 Ein filmischer Selbstversuch

Spiegelungen


WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE wurde deshalb auch von Filmkritik und Wissenschaft als Schlüsselfilm diskutiert, der die erste Periode der künstlerischen Arbeit Fassbinders mit einem pessimistischen Resümee beschließt; der Film kennzeichne "das Ende eines Kollektivs, das sich einst zum action-theater und antiteater zusammengefunden und auch die Crew seiner ersten Filme gebildet hat."36

Dem entspricht ein poetisches Verfahren, das die innerfilmische, die dargestellte Realität und Produktionswirklichkeit des Films permanent ineinander spiegelt. Der Film beschreibt, was er selber ist: eine Filmproduktion, die über Geldprobleme, Beziehungskonflikte und Gruppendynamik permanent ins Stocken gerät. Er setzt eine mise en abîme ins Werk, die, anstelle eines ersten und eines letzten Bildes, einen Bildraum sich vervielfachender Spiegelungen auffächert: Fassbinder, der den Aufnahmeleiter Sascha spielt, und Karl Scheydt, der den Produzenten spielt, tragen noch die Kostüme des wenige Monate vorher abgedrehten Films, die Anzüge der Gangster aus DER AMERKIANISCHE SOLDAT (BRD 1970), während die Handlung und der Handlungsort auf die Dreharbeiten des unmittelbar zuvor im spanischen Almeria fertiggestellten Films WHITY (1971) verweisen.37 Lou Castel, der die Figur des Regisseurs Jeff darstellt, trägt Fassbinders Lederjacke, Irm wird zwar von Magdalena Montezuma gespielt, aber von Irm Hermann synchronisiert. Hanna, der weibliche Star, ist ein scherenschnittartiges Porträt von Hanna Schygulla, dem Star der Truppe, und der amerikanische Schauspielstar vergangener Tage, Eddie Constantin, spielt den amerikanischen Schauspielstar, der im europäischen Film noch seine Rolle als Hommage an sich selbst findet.

Doch wäre der Film nicht der Rede wert, wenn er lediglich ein Statement artikulierte, etwa des Wortlautes: ‘Diese Gruppe ist nicht auszuhalten, ich höre auf, mit ihr zu arbeiten.’Tatsächlich findet man in WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE zum ersten Mal eine Inszenierungsform entwickelt, die einige Jahre später in Fassbinders Beitrag zu DEUTSCHLAND IM HERBST

auf die Spitze getrieben ist: die permanente Rückwendung auf ein Selbst der Darstellung, ein Ich und ein Wir des Films, das in seinen psychischen Reaktions- und sozialen Interaktionsmustern beides in sich einschließt – den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung und den nach Überwältigung und Unterdrückung.

Der Film ist eine Art Selbstversuch. Er beschreibt die Opferposition im gesellschaftlichen Repressionsgefüge als die eines unterdrückten Subjekts, das in seinem Wünschen und Handeln unauflösbar verstrickt ist mit den Mechanismen der Unterdrückung. Die Gruppe, die daran arbeitet, mit den Mitteln der Kunst die Machtmechanismen sozialer Beziehungen sichtbar werden zu lassen, nimmt sich selbst als Gegenstand dieser Arbeit in den Blick. Sie fragt nach den gesellschaftlichen Herrschaftsstrukturen nicht als einer außen liegenden Macht, sondern als ihrem eigenen Innenleben.

Mit dieser Rückwendung auf sich selbst wird noch das Subjekt der Kritik zu einer immanenten Relation des dargestellten Machtgefüges. In der inversen Spiegelung der filmischen Inszenierung werden die Freundschafts-, Liebes- und Arbeitsverhältnisse als reziproke Position wechselseitiger Unterdrückung deutlich. Noch die Kritik der Verhältnisse ist nur eine weitere Relation im Spiel sich austauschender Positionen von Subjekt und Objekt der Überwältigung, des Ausschlusses, der Zurückweisung, der Demütigung, der Übervorteilung, des Betrugs, der Gewalt... und eben der Kritik.

Wenn Lou Castel als Regisseur des Films im Film davon spricht, dass man einen Film machen wolle "gegen staatlich sanktionierte Brutalität", dann ist das einerseits – auf der Ebene der Diegese – eine Allerweltsphrase des zeitgenössischen Politjargons; bezogen aber auf die tatsächliche Filmproduktion von WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE ist damit zugespitzt formuliert, was man in den emotionalen Verstrebungen der Gruppe (die man selbst ist) sichtbar zu machen sucht – die physische Basis jener abstrakten Mächte, die Gesellschaft und Staat heißen.


Das Off als eine Form der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse


Wie also kann sichtbar werden, was aus dem Erfahrungshorizont einer gegebenen Sozialität ausgeschlossen ist? Sind doch die Verschränkungen begehrlicher Individuen und sozialer Mechanismen keineswegs per se anschaulich greifbar, so dass man nur die Kamera auf sie richten müsste, um ein Bild der Gruppe als einer sozialen Tatsache zu gewinnen. Weder die Erscheinungsformen der Beziehungen zwischen den einzelnen noch die Kräfte, mit denen die einen auf die anderen einwirken und aneinandergebunden sind, sind für sich genommen sichtbar oder abbildbar. Dies trifft umso mehr für die Mechanismen zu, in denen jeder einzelne und die Gruppe als Ganzes zum Bestandteil jenes Machtgefüges werden, gegen das sich die künstlerische Arbeit wendet: Sie sind Teil der staatlichen Repression und gesellschaftlichen Unterdrückung. Diese Mechanismen liegen zwangsläufig im Off der Selbstbilder und Selbstbeschreibungen; sie liegen außerhalb des Wahrnehmungshorizontes, den sich die Gruppe, die den Film WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE macht,


mit jener, die in dem Film einen Film dreht, teilt. Der Bildraum, in dem dieses Off der Wahrnehmung und Selbstwahrnehmung sichtbar wird, muss erst entworfen werden – als eine Form der Wahrnehmung gesellschaftlicher Verhältnisse.

Es bedarf einer Vielzahl von inszenatorischen Operationen, um aus einem gegeben Ort (etwa der Lounge eines Hotels im Nirgendwo einer Mittelmeerurlaubswelt) und aus einem Ensemble von Schauspielern (beispielsweise der Truppe des antiteaters, die in rascher Folge Theateraufführungen und Filme produziert) das Bild des gesellschaftlichen Verhältnisses zu gewinnen, das diese Gruppe ist – ein Bild, in dem die Verhaltensweisen und Gesten die physische Realität der Gruppe als eine soziale Tatsache sichtbar werden lassen. Erst die Inszenierung des kinematografischen Bewegungsbildes lässt einen Bildraum entstehen, den die Zuschauer gerade so weit als das Bild eines sozialen Gefüges fassen können, wie sie sich selbst als Kinopublikum in diesem Raum verortet sehen. 


Literaturangaben und Anmerkungen
36 Wilhelm Roth: Kommentierte Filmographie, S.145. [^]
37 Vgl. Wallace Steadman Watson: Understanding Rainer Werner Fassbinder, Film as Private and Public Art, Columbia SC 1996, S. 94f. Steadman Watson versteht WARNUNG VOR EINER HEILIGEN NUTTE als Reflexion der "self-destructive experience", die die Dreharbeiten von WHITY dargestellt hätten. [^]

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