2.6 Der unsichtbare Körper
Die Spaltung von Ich-Bewusstsein und Leib
Für Brecht ist das Theater schlechthin durch die spezifische Zeitlichkeit der Geste definiert. Er begreift es als ein Erzähl-Aggregat, das die verstrichenen Möglichkeiten und zukünftigen Chancen als koexistierende Zeitebenen des Hier und Jetzt gesellschaftlichen Handelns beschreibbar werden lässt. Der Schauspielakt ist das Medium, das die eine Zeit mit der anderen Zeit als Erfahrungswirklichkeit der Zuschauer im Zwischenraum von Darstellungsvorgang und Alltagsrealität in Beziehung setzt.
Wenn Brecht die Illusion einer integralen Figur durch den Gestus ersetzt, dann auch, um der Figur die allzu selbstverständliche Integrität zu nehmen, die sie durch die körperliche Präsenz des auf der Bühne agierenden Schauspielers gewinnt. Der Körper des Schauspielers wird aus der Referenz auf die Figur als deren sinnlich fassbare Einheit herausgelöst und unmittelbar auf das Sehen und Handeln der Zuschauer bezogen. Er wird der psychologischen Projektion
entzogen und in seinen äußerlichen Erscheinungsweisen unmittelbar zum Gegenstand der Theatralisierung. Seine Verhaltensweisen, seine Aktionen, seine Gesten und Bewegungen werden unmittelbar – d.h. ohne den Parcours der Ausdruckslogik der individuellen Psyche zu durchlaufen – zu isolierten Zeichen eines Körpers, der sich den Zuschauern nicht mehr als Einheit von Ich-Bewusstsein und Leib erschließt. Etwas zugespitzt könnte man sagen, sie werden zu Gesten eines Körpers, dessen Integrität und dessen Leben die Zuschauer als eine neue Bewusstseinsform verwirklichen müssen. Der soziale Gestus ist das Konstrukt eines Körpers, dem keine sinnliche Erscheinungsweise im Alltagsbewusstsein der Zuschauer entspricht. So kann Deleuze vom Brechtschen Gestus sagen, dass er die Handlungen zu einem Körper vor den Handlungen, vor dem Sichtbarwerden und vor der Gestalt in Beziehung setzt. Dieser Körper ist nicht mehr der Leib eines Ich-Bewusstseins28, vielmehr ist umgekehrt dieses Ich-Bewusstsein eine seiner zahllosen Manifestationen.
Der Schauspieler als Darsteller und Gegenstand der Darstellung
Fassbinder wird dieses Konzept der sozialen Geste in eine Poetologie filmischer Schauspielkunst übertragen; ergeben sich doch für das Leinwandbild aus den beschriebenen Überlegungen andere Konsequenzen als für die Bühne. In den Brechtschen Schauspielern verbindet sich die Position des Erzählens mit der Darstellung des Erzählten; sie sind im selben Zug Erzähler und erzählte Figuren; ihre Körper aber, ihre faktische physische Präsenz ist von dem einen wie von dem anderen getrennt, um das eine wie das andere mit der Realität der Zuschauer zu vermitteln. Im Film ist die Position des Erzählens durch die Kamera besetzt, und die reale physische Erscheinung der Schauspieler ist immer schon im Blick der
Kamera fiktionalisiert. Ihre Körper und ihre Aktionen sind in allen Erscheinungsweisen Ausdruck, Artikulation, Fiktion – sie sind immer schon Bild eines Körpers, eines Bewegungsstils, einer gestischen Diktion. In diesem Sinne wird bei Fassbinder noch der Akt des Schauspiels selbst zum Bestandteil des Dargestellten. Die Schauspieler vor der Kamera agieren gleichermaßen als Darsteller und werden bei dieser Aktion als Gegenstand der Darstellung von der Kamera beobachtet: ihre Gebärden und Verhaltensweisen, ihr Erscheinungsbild als agierende Schauspieler bezeichnet eine Ausdrucksebene der dargestellten Wirklichkeit; sie ist Teil eines kinematografischen Bildes des In-Beziehung-Stehens und In-Gesellschaft-Seins.