07.1 Filibuster - Das Ethos der Demokratie
1939 drehte Frank Capra einen Film, der sich wie ein Pamphlet der Idee von Öffentlichkeit und Gemeinsinn ausnimmt, die hier formelhaft aufgerufen wird: MR. SMITH GOES TO WASHINGTON. Der Film ist ein beeindruckendes Beispiel für die Verbindung von Unterhaltungskino und demokratischem Staatsverständnis. Denn das sentimentale Drama des kleinen, unbescholtenen Jedermann, der in die intrigengesteuerte Realpolitik gerät, ist zugleich eine Reinszenierung des revolutionären Gründungsaktes der amerikanischen Nation. Ein Gründungsakt, der im Unterschied zu den europäischen Nationen – Hannah Arendt hat nach dem Krieg mit großem Nachdruck darauf hingewiesen – weder auf staatliche Souveränität noch auf deren Begrenzung zielt.33 Nicht zuletzt mit Blick auf Deutschland hat Arendt deshalb die amerikanische Revolution als Gründungsakt eines demokratischen Verfassungsstaates der europäischen Idee der Staatssouveränität entgegenstellt. Statt der Souveränität wird eine Pluralität staatlicher Mächte ins Leben gerufen, die keinen anderen Zweck hat, als eben diesen Raum öffentlichen
Handelns und Sprechens zu sichern, der den Einzelnen die Möglichkeit bietet, sich selbst als Individuum in der Gestaltung einer gemeinsamen Welt zur Geltung zu bringen.
Von diesem Ethos der Demokratie handelt die aberwitzige Geschichte des Mr. Smith, der nach Washington zieht. Mr. Smith besteht auf seinem Recht zur freien öffentlichen Rede, indem er es ausübt. Er nutzt jene wahrhaft eigentümliche Regelung des Filibuster, um diesem Recht Gehör zu verschaffen, in einer nicht enden wollenden Daueransprache, die desto unsinniger wird, je länger sie dauert. Er redet und redet tagelang, bis zur völligen physischen Erschöpfung; er übt das Recht auf die Rede allein um seiner selbst willen aus. In dieser buchstäblich zwecklosen Rede, in dem Akt der öffentlichen Rede um ihrer selbst willen, wird der Gründungsakt der staatlichen Ordnung reinszeniert. Am Ende sprengt die Idee der Nation die Verkrustung des politischen Systems: das Freiheitsethos eines ganz und gar alltäglichen Individuums wird überall im Land wahrgenommen.
MR. SMITH GOES TO WASHINGTON, Frank Capra, USA 1939
(Ausschnitte aus 14., 20., 22. und 24. Minute)
MR. SMITH GOES TO WASHINGTON sieht sich an wie ein Brechtsches Lehrstück eben dieser Idee der Nation. Eine Nation, in der die staatliche Macht selbst keinen anderen Zweck hat, als die Freiheit der Einzelnen zu schützen und zu verteidigen.
Noch in ihren ehrwürdigsten Erscheinungen ist die staatliche Institution ein bloßes Mittel zu diesem Zweck: den Raum zu gründen und zu sichern, der s allen Individuen erlaubt, ihre Vorstellungen vom Glück öffentlich zur Geltung zu bringen. In diesem Raum siedelt sich noch Capras Propagandafilm an,
wenn er als eine der ersten Antworten auf die Frage: Warum kämpfen wir? aus den Gründungsschriften der Vereinigten Staaten zitiert: „That government of the people, by the people, for the people shall not perish from the earth.“34
Der Krieg, das wird in den ersten Minuten von PRELUDE TO WAR klar gesagt, verneint alles, was den american way of life ausmacht. Und eben deshalb ist der Kriegseintritt eine Frage, die Jedermann und Jedefrau angeht, eine Frage, die unendlich zu besprechen ist.
Why We Fight, Episode PRELUDE TO WAR, Frank Capra, USA 1942 (25. Minute)
Wenn PRELUDE TO WAR immer neu anhebt, diese Frage zu beantworten, dann weniger um zu überzeugen – die Entscheidung ist ja längst gefallen. Das Bereden und Argumentieren ist auch hier nicht einfach ein Mittel zum Zweck. Es ist vielmehr ein Modus der Teilhabe. Es ist der
Versuch – gegen den Zwang der faktischen Verhältnisse – den Raum offen zu halten, in dem sich das Prozedere des öffentlichen Debattierens als Basis eines gemeinschaftlichen Lebens erhalten kann.