06 Die Dauer des Verfalls
Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969
Die geschichtliche
Wirklichkeit als das
absolute Außen
Auf den Film bezogen, auf das Innere dieser Welt unter Glas, bekundet sich in diesem Zerfall die soziale, die geschichtliche Wirklichkeit als ein absolutes Außen. Es ist das Außen der tiefblauen Nacht, durch das sich der Wagen von Aschenbach und Frederick dem Fest der Familie nähert, während Joachim dem Gedichtvortrag seiner Enkelkinder lauscht.
Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969
Es ist die Nacht, durch die nur wenig später das Einsatzkommando der GeStaPo anrollt.
Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969
Es ist das Nachtblau, in das Herbert durch das Fenster hinaussieht, während er mit seinem Neffen über die Zustände in Deutschland spricht, um gleich darauf in diese Nacht zu entfliehen.
Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969
Es ist das Blau, aus dem die schwarz uniformierten Soldaten am Ende des wüsten Gelages der SA-Horden auftauchen: Es ist das Blau, aus dem Herbert gegen Ende des Films wiederkehrt, von Mord, Verrat und den KZ berichtet und vom Sieg des NS-Staats. So dass am Ende keineswegs klar ist, ob man ein Bild der Geburt oder des Untergangs des Dritten Reiches gesehen hat.
Zerfall des Interieurs
Während Frederick sehr bald nach der Ermordung des Patriarchen den Platz und die Räume Joachims einnimmt, ist Martin – Haupterbe und schwächlicher Sohn Sophies – in der Villa zwar allgegenwärtig, ohne aber einem bestimmten Raum zugeordnet zu sein. Stattdessen tritt an ihm das Außen als ein buchstäblicher Zerfallsprozess des Interieurs in Erscheinung. Er wird denn auch mit einem Bühnenauftritt eingeführt. Das Fest hat gerade begonnen, Joachim nimmt die Darbietungen seiner Enkel entgegen, erst betreten Frederick und Aschenbach den Raum, dann lässt Martin Bühnenscheinwerfer auffahren, dann trifft die Nachricht vom Reichstagsbrand ein.
LA CADUTA DEGLI DEI. Luchino Visconti, I/CH/BRD 1945 (14. bis 17. Minute)
Im Auftritt Martins wird das transparente Licht, das bis dahin über den Dingen lag, buchstäblich in seine Bestandteile zerlegt. Das gedämpfte Grün der Polster, das Rot-Orange der Blumen, das Blau der Lakaien in Livree: Es ist, als würden die Farben im selben Moment sich von den Objekten lösen und aus der sicheren Ordnung der Dinge freigesetzt werden, in dem eben diese Ordnung zu zerfallen beginnt.
In der Folge dann ist das farbige Mischlicht – erst ein kaltes Grün, dann ein Blau und am Ende verblichenes Purpur – stets gegenwärtig, wenn Mord, Verrat und Schändung geschehen.
Und so wie das Blau das Außen bezeichnet, aus dem Frederick und Aschenbach ins Innere eindringen, spielt das Rot auf Rot, mit dem das Gesicht Sophies präsentiert und damit die Figur eingeführt wird, gleichsam mit dem Gedanken vom Inneren des Innen. Es präsentiert in Sophie zugleich die Mutter, die Ehefrau, und die Tochter im Reich Joachims, als Herrin des Begehrens.
Die Geschichtlichkeit des Zuschauers
Der Film ist ein Kammerspiel individueller Leidenschaften und verwickelter Beziehungen, transponiert in das Format der großen Historie. In der Villa der Essenbecks stellt es sich dar als ein hermetischer Kosmos, dessen innerer Aufbau einer abstrakten Logik folgt. Denn die Bezüge des Bildraums folgen nicht mehr der geometrischen Logik des Alltagsverstands, sondern beschreiben das je spezifische Gesetz der dargestellten filmischen Welt. Der Bildraum ist hier identisch mit einem Wahrnehmungsraum, dessen immanente Beziehungslogik sich dem Zuschauer als Idee vom Ganzen des Films erschließt. Bezogen auf dieses "Interno" ist die Politik, die Geschichte ein Außen, das an den Effekten greifbar wird, die es im Innern zeitigt: der Desintegration der individuellen Psyche und der sozialen Beziehungen, der Deformation der Wünsche und Leidenschaften, der Umschmelzung der Bindungskräfte der Liebe und der Sexualität. Sie stellt sich dar als eine Deformation aller Lebens- und Liebenswünsche, eine Umschmelzung aller Antriebe und Impulse, die auf Gemeinschaftlichkeit zielen, sei es der Geschlechter, der Familie, der Freundschaft. Doch hält der Film dem Zuschauer keinen Diskurs über das Verhältnis von psychischer zur geschichtlich-politischen Realität, sondern eröffnet ihm in der Zeit seiner Wahrnehmung einen Bildraum, der es ihm ermöglicht, diese Verhältnisse als seine eigene, tatsächliche Beziehung zur Geschichte zu denken.
Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969
Die Zeit der Katastrophe
Der Film inszeniert ein Bild dieser Vorgänge, ein Bild der Zeit, in der sich diese vollziehen. Immer wieder kehrt er zu seiner ersten Szene, dem Bild der Festtafel, zurück. Und als bemesse sich darin die Zeit der Veränderung, sind ein ums andere Mal weitere Bewohner des Hauses verschwunden.
Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969
Vom Zuschauer her gesehen ist es die Zeit, in der die Schönheit der Dinge auseinanderbricht in ein grelles Farbenspiel. Gleich nach dem Mord an Joachim kehrt der Film in den Salon zurück, in der noch die Bühne für den Auftritt Martins hergerichtet ist. Das Licht hat sich nun in zwei Farben geballt: in ein kaltes Türkisgrün und ein leuchtendes Orange. Die Katastrophe zeigt sich als die Zeit, in der sich die Farben mischen, eintrüben und verbleichen. Der Tisch, der die Familie einte, leert sich, die Dinge verlieren ihre menschliche Prägung: Zum Film, so schreibt Visconti, brachte mich vor
Still aus LA CADUTA DEGLI DEI, Luchino Visconti, I/CH/BRD 1969
allem der Drang, GESCHICHTEN von lebendigen Menschen zu erzählen, von lebendigen Menschen, die inmitten der Dinge lebendig sind, nicht von den Dingen an sich. Das Kino, das mich interessiert, ist ein anthropomorphes Kino. [...] Meine Erfahrung hat vor allem gezeigt, dass die Anwesenheit des Menschen, seine Präsenz, das einzige ist, was ein fotographisches Bild wirklich erfüllt. Die Umgebung hat er – d.h. seine lebendige Präsenz – geschaffen, und durch die Leidenschaften, die ihn bewegen, erhält sie Wahrheit und Tiefe. Und sein – wenn auch nur kurzzeitiges – Verschwinden aus dem leuchtenden Rechteck wirft jedes Ding in den Anschein unbeseelter Natur zurück.14
Rot-orange und grün sind die Lichttrübungen am Anfang des Films; blaues Licht breitet sich über dem Bett von Sophie aus, wenn sie Frederick bedrängt, einen weiteren Mord zu begehen. Am Ende ist das Blau und das Rot ein purpurschimmernder Nebel, der die Dinge des Hauses Essenbeck bedeckt, wenn Martin die Hochzeit seiner Mutter mit Frederick vollzieht. Es lässt die ausgelaugten Violett-Töne des Kleides und das bleiche Gesicht von Sophie zum Totenbild werden, während im allgegenwärtigen Schwarz-Rot der NS-Flaggen die neue Ordnung sich darstellt.
LA CADUTA DEGLI DEI. Luchino Visconti, I/CH/BRD 1945 (138. bis 147. Minute)
Als sei das Fest, mit dem der Film begann, endlos weitergegangen, sieht man noch einmal den Salon. Der Raum ist mit den NS-Flaggen zum Tanzsaal umdekoriert: halbleere Gläser, ver-rauchte Luft, an die Seite gerückte Möbel, abgebrannte Kerzen und trunkene Liebespaare, die auf dem Boden herumliegen wie nach einer sehr langen, durchzechten Nacht.
Der Film will damit keine Allegorie des Faschismus entwerfen. Vielmehr setzt er in seiner ästhetischen Konstruktion die Zuschauer selbst ins Verhältnis zu einer geschichtlichen Realität, von der er sich kein Bild machen kann; er setzt sie ins Verhältnis zur einer Katastrophe, die nicht als historisches Ereignis zu begrenzen und zu fixieren ist, die vielmehr in ihren Wirkungen fortdauert als psychische Realität gegenwärtiger Individuen. Dieses Fortdauern findet in der Veränderung des Interieurs seinen figuralen Ausdruck: Das Licht zerbricht in grelle Farben, Figuren verschwinden, die Dinge verlieren ihre Lebendigkeit; einer kehrt zurück, als Zeuge des abgründigsten Mordens…