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2 Brecht: der soziale Gestus


Von heute aus gesehen ist der Neue Deutsche Film — der westdeutsche Autorenfilm von den frühen sechziger Jahren bis zum Ende der siebziger Jahre — eines der beeindruckendsten Zeugnisse für die Wirkungsgeschichte Brechtscher Schauspieltheorie. Kann man doch sagen, dass die Erneuerung des westdeutschen Films sich ganz wesentlich durch eine neue Schauspielweise beschreiben lässt. In Absetzung zum Kino der fünfziger Jahre und in Opposition zum Hollywood-Mainstream ist diese Spielweise Punkt für Punkt durch ihren Gegensatz zu den Realismuskonventionen eines psychologischen Schauspiels beschreibbar. Da werden Gesten wie Masken vor sich hergetragen, und Figuren verbinden sich zu Tableaux vivants, die den Fluss der Handlung in eine Serie von Strukturbildern sozialer Konstellationen zerlegen; da werden Sätze gesprochen, als gehörten sie einer unbekannten Sprache an, und Handlungen von größter Grausamkeit werden mit der Mimik gelassener Gleichmut kontrastiert. Wo immer die Konvention Synchronität, Entsprechung und Einheitlichkeit verlangt, werden die Abläufe asynchron, kontrapunktisch und diskontinuierlich organisiert.



Keine illusionären Figuren also, sondern sprechende, gestikulierende, zeigende, erzählende Schauspieler

 

dominieren dieses neue deutsche Kino. Sie sind den Figuren vergleichbar, die in den Filmen des Neorealismus, der Nouvelle Vague, Bergmans und Wajdas das europäische Kino eroberten. Man könnte deshalb die These wagen, das Brechtsche Schauspiel war der Schlüssel, mit dem das westdeutsche Kino endlich Zugang zum europäischen und damit Anschluss an das internationale Kino fand. Vor diesem Hintergrund geben Fassbinders Filme das vielleicht eindrücklichste Zeugnis der Wirkung Brechtscher Schauspieltheorie auf das westdeutsche Autorenkino der sechziger und siebziger Jahre ab. Entsprechend ist die Darstellungsweise der Akteure dieser Filme stets durch den Gegensatz zur Realismuskonvention des psychologischen Schauspiels beschrieben worden. Tatsächlich scheinen die Filme das illusionistische Prinzip psychologisch fundierter Schauspielkunst umzukehren. Genau in dieser Umkehrung setzen sie sich aber mit einer Idee von Schauspielkunst auseinander, die am Ausgangspunkt des bürgerlichen Theaters, am Ausgangspunkt jenes psychologischen Verständnisses von Schauspielkunst steht, das noch heute die fiktionale Darstellung in der westlichen Film- und Fernsehkultur prägt: dem anthropologischen Entwurf der Schauspielkunst im Theater der Empfindsamkeit.4 


Literaturangaben und Anmerkungen
4 Ich möchte mich an dieser Stelle weitgehend auf den Hinweis beschränken, da ich in anderen Zusammenhängen diesem Problem nachgegangen bin. Vgl. Hermann Kappelhoff: Bühne der Emotionen, Leinwand der Empfindung – Das bürgerliche Gesicht, in: Blick Macht Gesicht, hg. v. H. Gläser, B. Groß und H. Kappelhoff, Berlin 2001, S. 9-41. Ders.: Matrix der Gefühle. Das Kino, das Melodrama und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004.

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